
I. Die Grundlage der mittelalterlichen
Kosmographle.
1 it dem Niedergang der römischen Welt-
' herrschaft ging auch die Wissenscliaft einem
raschen Vertall entgegen. Hatten schon die
spätrömischen Kompilatoren ihr spärliches
Wissen aus älteren Werken kümmerlich
zusammensuchen müssen, ohne einen sonderlichen
Fortschritt zu erzielen, so trat ein
, völliger Stillstand in der intellektuellen
Arbeit ein, als Rohheit und Barbarei im
Reiche immer mehr um sich gTiflfen. Die
Völkerwanderung brauste über Europa hin, und
mit ihr stüi'zten die letzten Säulen der alten Herrlichkeit
zusammen. Auf ihren Trümmern gründen Völker
germanischen Stammes neue Reiche, die bald erstarken; und
so sehr auch die Zersplitterung unter diesen noch vorwaltet,
ein geistiges Band hält sie Alle geeinigt: das Ch r i s t e n t um.
Das Bedürfnis nach einer religiösen Leitung lässt eine hierarchische
Macht entstehen, und Rom, die einstige Beherrscherin des Orbis
terrarum, wird zum zweiten Mal der Mittelpunkt der Weltherrschaft.
Ein religiöser Geist durchweht die ganze mittelalterliche Kultur.
Der gläubige Christ hielt es für erspriesslicher, sich frommen Betrachtungen
hinzugeben, als nichtigen Spekulationen nachzujagen, um doch
nur ein zweifelhaftes Wissen zu erringen. Bot doch die Heilige
Schrift schon eine so unendliche Fülle des Wissenswerten dar, dass
es als ein höheres Verdienst galt, die dort enthaltenen Wahrheiten
zu begreifen und weiter auszugestalten. Der Weltenbau wa r das
Schöpfungswerk Gottes; tun in das Wesen der Natur einzudringen,
musste man sich voll und ganz der göttlichen Allmacht bewusst