
16 I. KAP I T E l . DAS WELTBILD DER ALTEN. HEliODOT S ERDANSCHAUUNG. 17
herkommen sollte, und \on den Zinn-Inseln — Nachrichten, die vielleicht
nicht ohne Absicht phantastisch gehalten waren.')
Die Geographen des VI. Jahrliunderts waren jedenfalls noch auf
sehr mittelmässiges Material angewiesen. Sie nahmen die fragwiudigen
Berichte gläubig hin; aber sie tliaten es mit dem besonderen Zweck,
ihre auf spekrdativem Wege gewoimene Anschammg von der auf
dem Ocean schwimmenden Erdscheibe zu stützen, und sie gaben hierdurch
zu erkennen, dass sie den höheren Gesichtspimkt, mit ihren Untersuchungen
über die Erde als Weltkörper die Einzelergebnisse der Länderforschung
in Einklang zu liringen, nicht aus dem Auge gelassen hatten.
Der Mangel an diesem Allgemeinüberblick machte sich in
der Folgezeit sehr bald fühlbar. Das We l t b i l d des V. J a h r -
h u n d e r t s hat bemerkenswerte Residtate in der Erforschung neuer
Länder und Völker aufzuweisen. Die noch in enge Grenzen eingeschlossene
Oiknmene nahm gTÖssere Dimensionen an, aber die gesamte
Geograpliie lief doch mehr oder weniger nur auf eine einfache
Länderkunde hinaus; man hatte sich von den allgemeinen kosmologisehen
Fragen entschieden abgewandt. Überhaupt machte sich nicht nur in
den Kreisen der Gelehrten, sondern auch im Volk eme bestimmte
Abneigung gegen die höheren Fragen der wissenschaftlichen Erdkunde
geltend. Hatte man schon gegen die Ergebnisse der ionischen
Geographen manchen Zweifel erhoben, so stand man einer anderen
Lehre mit ähnlichem Bedenken gegenüber. Die ersten Keime zu der
von den Pythagoräern begründeten Le h r e von de r Ku g e l g e s t a l t
der Er d e und den aus ihr sich weiter ergebenden Fragen, wie die
Zonenlehre und Erdmessung, reichen bis in die ionische Zeit zurück,
und es ist anzunehmen, dass alle jene Probleme im nachfolgenden
V. Jahrhmidert schon eine weite Verbreitung gefunden haben müssen.
Es lässt sich begreifen, dass diese hochfliegenden astronomischen und
mathematischen Reflexionen einem einfachen, naiven Beobachter Anfangs
höchst unglaubwürdig erscheinen mussten; der plötzliche Übergang
von der Erdscheibe zur Erdkugel war ein zu jäher, als dass
nicht die neue Theorie zunächst entschiedene Zurückweisung finden
musste, oder doch nur mit bedenklicher Zurückhaltung angenommen
werden konnte. Die Verächter der Kugellehre fanden daher überall
Geliör, und es konnte nicht ausbleiben, dass auch die athenische
Lokalkomödie dieselbe mit Erfolg persiflirte.-)
Herodot I I I , 115. Da s s d e r Be rns t e i n d e r n o r d i s c h e n ICüsten auf dem L a n dwe g e
eingeführt w u r d e , ist oben ge z e igt wo r d e n .
Aristophanes , n a h e s 2 0 3 ff.
Inmitten dieser Bewegung stand H e r o d o t . Als vielgereister
Mann hatte er umfassende Kemitnisse und Erfahrungen gesammelt
und sein Urteil geschärft; in vorsichtiger Weise weiss er daher
zwischen den eigenen, selbstgemacliten Beobachtungen und den gelegentlichen
Mitteihmgen, die ihm von anderer Seite zukamen, wohl
zu scheiden. »Ich muss das Gehörte berichten, jedoch nicht Alles
Allen glauben, und dies soll für mein ganzes Werk gelten«, sagt er
einmal.') A^on diesem Standpunkte aus führt er gegen die Geographie
seiner Vorgänger eine scharfe Sprache und weist die Mittel, mit denen
jene zu arbeiten pflegten, als unzureichend zurück. Aber sein autoptisches
Wissen geht wenig über die Länder des östlichen Mittelmeerbeckens
lunaus,-) \md dalier A'ermag er in seiner hyperkritischen
Llaltung über den äusseren Umfang der Erdfläche nur skizzenhafte,
wenig sichere Angaben zu machen. Während er für den Süden der
Erde, übereinstimmend mit den loniern, die Ergebnisse der Umsegehmg
Libyens durch die Phöniker Necho's und der Skylax-Fahrt für glaubhaft
hält,^) rückt er doch den Ostrand der Erde bedeutend weiter
hinaus. Die Inder sind von Morgen und Sonnenaufgang her die
ersten Menschen, aber noch hinter den Indern dehnt sich eine weite
Wüste aus.') Bemerkenswert sind ferner seine Angaben über das
Kaspische Meer, welches die lonier, wie es allen Anschein hat, für
einen Busen des Grossen Oceans erklärt hatten.") Mit aller Entschiedenheit
vertritt er aber die gegenteilige Ansicht, wenn er sagt:
»das Kaspische Jleer ist ein Meer für sich und hängt nicht mit dem
') W i n k l e r , ü b e r die Ar t u n d den Gr a d d e r von He r o d o t g e ü b t e n Kr i t i k ,
Thorn 1865. — He r o d o t s c h e i n t l i t t e r a r i s che Que l l en we n i g e r b e n u t z t zu h a b e n ; h i e r ü b e r
vgl. H e i l , I . o g o g r a p h i s n nm He r o d o t u s u s u s esse v i d e a t u r , Ma r b t i r g 1884. Da g e g e n ist
Hekataeos zum Teil wö r t l i ch a u s g e s e h r i e b e n ; vgl. D i e l s (im He rme s X X I I , 44).
-) Er ha t t e Un t e r - I t a l i e n u n d Sieilien b e r e i s t , wa r na ch No r d e n bis z um d o d o n ä i s c h e n
Orakel u n d dem k i n n n e r i s c h e n Bo s p o r u s v o r g e d r u n g e n , h a t t e Vo r d e r -As i e n (Kl e i n -As i e n ,
K y p r o s , P h ö n i k i e n u n d S y r i e n ) b e s u c h t n n d da s Pe r s e r r e i e h bis n a c h S u s a d u r c hwa n d e r t ;
auch Ägypt en l e rnt e er k e n n e n n n d f u h r den Nil a u fwä r t s bis El e p h a n t i n e . A'gl. H i l d e b r a n d
(De i t ine r ibus He r o d o t i Eu r o p a c i s et Af r i c a n i s , Le ipz ig 1883) tmd H a c h e z (De He r o d o t i
i t i n e r i b u s , Güt t i nge n 1878).
Herodot HI . 1 0 7 : I l joc h'ctC usTaaß^tr;^ STy^cirv 'A^aßtvi r(j~i' ol^/^cusrw 'y^w^iuji' I m .
H I , 114: 'A7rc«/.[i'0a;'i'>]c 5e TzccsYysi jyflCT SVI'OL'T« r?.fOi' v AI^WTTY '/Jfi^yi ETyjtrrj
Tü'l' ClfiEOaSl'Ul',
'') He r o d o t H l , 9 8 : 'Ir^wi- ytis to tt^c^ -yi^ m i^iju/vi stti Stü ryr 4'«uuoi'. Vgl . I I I , 1 0 6 ;
IV, 40.
Rob. jMü l l e r , die g e o g r a p h i s c h e Ta f e l na ch den An g a b e n I l e r o d o t ' s mit Be r ü c k -
Eichtigung s e ine r \ ' o r g ä n g e r , P r o g r . Re i c h e n h a c h 1881, S. 5. — Au c h P l u t a r c h (Al e x a n d. 44)
nimmt auf die P h y s i k e r "Vor Al exande r» Be z u g , die da s Ka s p i s c h e Me e r zu e inem Bu s e n
machten. \ ' g l . Be r g e r a. a. 0 . I, 32.
K r c t s f h m e r . Eiitdertiung .\nicrit:.Vs. 3