
' 0 II. KAPITEL. DAS WELTBILD DES 3IITTEL.U.TEES.
werden, durch die Alles erst geworden. Nur im Glauben allein war
die Erkenntnis begründet, er bildete die notwendige Vorstufe des
Wissens. Credo ui inlelligam, sagt Tertullian.')
So wurde denn die Bibel das Grundbuch des Glaubens und des
Wissens, das Emidament lür die gesamte geistige Entwickelung. Sie
enthielt in nnce Alles, was den AVissenshorizont des Menschen ausmachte,
und es war lediglich Sache einer gründlichen Auslegimg, das
gebotene Thatsachen-Material richtig zu erfassen und die sieh natürlich
ergebenden Folgerungen aus ihm zu ziehen. Hinsichtlich des Naturwissens,
und besonders der geophysischen und geographischen Kenntnisse,
wa r man zumeist auf das Alte Testament angewiesen, in
welchem Gegenstände dieser Art mehrfach behandelt sind. Vor
Allem hat das Eingangskapitel der Genesis, die Erzähhmg des
Sechstagewerkes, zum Nachdenken aufgefordert und eine umfangreiche
Litteratur hervorgerufen. Die Hexaemeron-Exegese,-) die
Catenen und Quästionen, wie sie besonders die patristische Zeit hervorgebracht
hat, bilden daher für die Erdkunde des früheren Mittelalters
die hauptsächlichste und ergiebigste Quelle.") Freilich konnte es nicht
ausbleiben, dass den ohnedies fragmentarischen imd fragwürdigen
Bilielberichtcn eine verschiedene Deutung zu Teil wru-de, und es kam
vor, dass die Exegeten unter einander zu diametral entgegengesetzten
Schlüssen kamen, dass beispielsweise die Einen von ihnen aus der
Schrift die Kugelgestalt der Erde, die Anderen die Scheibengestalt zu
erweisen vermochten. Die mannichfachen Prinzipien bei der Auslegung,
der bereits stark verderbte Text der Septuaginta, und noch mehr
jener der Vulgata, trugen dazu bei, einer Zersplitterung in verschiedene
Exegetenschulen Vorschuh zu leisten.*)
:\Ian untersuchte die Gegenstände in der Na t u r niclit naeli ihren Itansalen Bedingungen
hin, sondern leitete sie ans übersinnlichen Ursachen ab. Daher gab es keine eigentlich
wissenschaftliche For s chung. A'gl. H. v. E i c k e n , Geschichte und System der mittelalterlichen
Weltanschauung, Stuttgart 1887, S. 611; I t e u t e r , Geschichte der religiösen .Aufklärung im
Mittelalter vom En d e des VI I I . bis zum .Anfang des XIA'. J a h r h u n d e r t s , Berlin 1875.
2) Eine kritische Darstellung, besonders der Hexa eme ron-Li t t e r a tur , vgl. bei O. Z ö c k l e r ,
Geschichte der Beziehungen zwischen Theologie und Naturwissenschaft, Bd. I , Gütersloh 1877;
— D i e s t e l , Gesell, des Alten Tes tament s in der christlichen Ki r ch e , J ena 1869; ferner
N i r s c h l , Lehrbuch der Patrologie und Pa t r i s t ik, Mainz 1881 —1 8 8 5 ; A l l z o g , Grundris s
der Patrologie oder d e r älteren ehristlichen Litteraturgeschichte , 4. Aull., Fr e iburg 1888.
3) Man fügt e den einzelnen Bibelversen einen gelehrten Komment a r bei und versnehte
die e rwähnt en Na t u r p h ä n ome zu d e u t e n , soweit ihr göttlicher Ur s p r u n g eine Deutung ziiliess.
— Üb e r die Clavis- und Phys iologus -Li t t e r a tur vgl. Zöckler a. a. O. 411.
Bemerkenswert sind die Schulen von .\lexandria und .Antioehia. Wä h r e n d dor t die
allegorische Schriftauslegung besonders dur ch Origenes zu hoher Blüte sich entfaltete, be-
EIKFLUSS DER BIBEL UND DES ALTERTHUMS. 79
Aber trotz alledem konnte man sich den gewaltigen Nachwirkungen,
welche die antike AA'issenschaft noch immer ausübte, nicht
entziehen. Trug man zwar mehr oder weniger eine gewisse Abneignng
gegen dieselbe zm' Schau,') so hatte man sich schliesslich
nach und nach doch dazu verstanden, einzelne Lehrmeinungen der
Alten zur Erklärung heranzuziehen, und besonders dann, wenn sie mit
den biblischen Ansichten in keüiem AViderspruch standen, vielmehr
dieselben ergänzten. So warf man sich wieder auf das Studium der
Alten, nnd das geographische AVissen des Mittelalters trägt daher den
unverkennbaren Stempel der antiken Erdkunde an sich.") Die zahlreichen
encyklopädischen Sammelwerke aus der Römischen Zeit wurden
wieder hervorgeholt und systematisch excerpirt; so Ijesonders die
Ilistoria naturalis des Plinius, die Colledanea rerum memorabilium des
Julius Solinus, der Kommentar zum Somnum Scipionis des Macrobius
mid das Compendium des Martianus Capella.') Man ging endlich auch
daran, zusammenfassende Kosmographien zu schreiben, wenn man
gleich dem Ganzen einen theologischen Endzweck unterzuschieben
wusste."') Es lässt sich begreifen, dass bei dem einfachen Excerpiren
folgte man in Antioehia das entgegengesetzte Pr inz ip, indem man den Bibeltext mit einem
uinfangreichen wissenschaftlichen Appa r a t in fast rationalistischer We i s e erklärte. Zu dieser
Syrischen Schule gehören Th e o d o r von Mojisuestia, Severian von Gaba l a , Ep h r äm, und
Kosmas Indikopleustes. — Erwä h n t mag hier auch die Ka j ipadoki s che Richtung w^erden,
deren I l auptve r t r e t e r Basilius der Grosse und sein Brude r Gregor von Nys s a sind.
Bekannt sind die Äusserungen des Lactanz.
Die geophysischen Fr agen in ihrer Abhängigkeit von der Bibel und Ant ike im Verlaufe
des ganzen Jlittelalters behandelt m e i n e Schr i f t : Die physische Er d k u n d e im christlichen
iMittelalter; Versuch einer qiiellenmässigen Darstellung ihrer historischen Entwi cke lung
(Geogr. Abhandlgn., heraiisg. von Pe n e k , Bd, IV, He f t 1, Wi en-Olmüt z 1889), — Speziell die
patristische Zeit hat Giov. D l a r i n e l l i dargestellt in: Die Er d k u n d e bei den Ki r chenvä t e rn,
deutsch von Neuiiiann, Leipzig 1884; vgl. auch G ü n t h e r , Die kosmographischen Anschauungen
des Mittelalters (Deutsche Runds chau f. Geogr. u. Statistik, F\'. Jahrgang) .
Diese fanden in den Klosterschulen des Dlittelalters eine weite Ve r b r e i t u n g , wie
die uns erhalten gebliebenen zahllosen Handschriften n. a. zeigen. Vgl. S p e c h t : Geschichte
des Unterrichtswesens in Deutschland von den ältesten Zeiten bis zur Mitte des XI I I . J a h r -
hunderts, Stut tga rt 1885, S. 145.
Unter den allgemeinen Darstellungen der W^elt, und speziell des Er d k ö r p e r s , verdienen
besondere Beachtung die Etymologiae oder Origines (Buch I I — 1 7 ) des gelehrten
Bischofs I s i d o r v o n S e v i l l a (-{• 636) , sowie dessen Uber astronomicus. Das We rke l t en des
H r a b a n u s D l a u r u s {Liber de XJniverso) stützt sich wesentlich auf Isidor's Schr i f t en; vgl.
St. Fe l lne r, Compendium der Naturwissenschaften an der Schule zu Fulda im IX. J a h r h u n d e r t ,
Berlin 1879. — B e d a Venerabiiis (673 — 735) giebt in seiner Schrif t de natura rerum gleichfalls
einen Abriss der We l tbe s chr e ibung; vgl. W e r n e r , Beda und seine Ze i t , Wi e n 1875, —
Der anonyme G e o g r a p h n s R a v e n n a s , ein griechischer Mö n e h , verfasste am En d e des
\TI. J ahrhunde r t s eine Kosmographi e in griechischer Sp r a c h e , die im IX. J a h r h u n d e r t ins