6gö
Seele besitzen. Vielleicht hangt sie auch mit einer wenig ausgebildeten
Idee von der Seelenwanderung zusammen. Uebrigens erreichen die Ca-
maccms ein hohes Alter,’ und ich sah einen Mann von hundert Jahren,
dessen dichtes Haupthaar zwar ergrauet, aber nicht weiss war. In der
Nähe der Weissen nimmt die Sterblichkeit unter ihnen zu, und sie unterliegen
vorzüglich den Blattern und andern hitzigen Fiebern. Die Co-
lonie hatte . erst vor Kurzem durch diese Krankheiten einen Theil ihrer
Glieder verloren, wodurch sich die Gelegenheit ergab, das Skelet von
einem Manne dieses Stammes zu erhalten. W i r fürchteten anfänglich,
die Meinungen und Gefühle der Indianer durch Nachsuchungen solcher
Art zu beleidigen, zu unserer Verwunderung aber brachten sie uns selbst
das Gewünschte. Der Schädel dieses Mannes zeichnet sich durch die
äusserste Festigkeit und Schwere seiner Knochensübstanz, durch die kräftige
Ausbildung des Unterkiefers und die ^starke Hervorragung der Stirnbeulen
aus; letztere verursacht, dass die‘Gesichtslinie, welche von der
unteren Vereinigung der Kinnbackenknochen nach dem oberen Ende der
Nasenknochen gezogen wird , mit dem horizontalen Kopfdiameter eine«bedeutend
geringeren Winkel (von 68°), als die nach den Vorsprüngen der
Stirne gezogene (von 76°) bildet"). Das Antlitz der Camacäns zeigte: nicht
selten eine auffallende Ausbildung der Oberlippe; der kurze und fleischige
Hals liess den Kehlkopf nur wenig hervortreten, und dem gemäss erschien
die Sprache wie ein undeutliches, monotones Gemurmel, wobei die Lippen
wenig bewegt, ja sogar bisweilen die Zähne verschränkt oder fast
aufeinander aufgesetzt werden. Nasen- und Gaumenlaute sind in der Ca-
macans - Sprache sehr häufig, und bisweilen erhalten die, ohnehin sehr
langen und in einander Überfliessenden Worte eine seltsame Unbestimmtheit
der Betonung, indem der Laut gleichsam aus tiefster Brust herausge-
hohlt, aber im Munde wieder gedämpft wird. Uebrigens soll die Sprache
zwar arm und ungelenk, aber doch sehr energisch seyn. Selbst mit den
wenigen Worten, welche die Camacans besitzen, kargten sie, als wir,
in ihre Hütten eingedrungen, Auskunft über das verschiedene Geräthe ihres
ärmlichen Haushaltes wünschten. Ein junger Bursche war beschäftigt, *)
*) Vergl. die Abbildung dieses Schädels in Spix Simiae et vespertiliones, t. 37. f. 1.
einigen Kindern die Augenbraunen -auszureissen; eine allgemein übliche
Verunstaltung, gegen, die sich der Missionär bisher vergeblich bemüht
hatte. Eine Mutter hatte ihre Kleinen auf der Stirne und den Wangen
mit Kreisbügen und auf der Brust mit einem grosseii Kreuze von rother
Farbe bemalt, war aber durch den Dollmetscher nicht zu bewegen, uns
Etwas über den Grund der Wahl der letzten Verzierung zu sagen. Die
Camacans, und zwar vorzüglich die Weibe r , bereiten diese rothe Farbe
aus den Saamen des Urucüstrauches {B ixa Orellana, indem sie dieselben
mit kaltem Wasser abreiben, bis der farbehaltige Ueberzug niedergefallen
ist. Diesen Stoff, den Orlean, formen sie sodann in viereckichte
Stücke, welche sie an der Sonne austrocknen lassen; um die Farbe zur
Schminke zu benützen, mischen sie sie durch Reiben mitRicinusöl oder mit
einem Thierfette. Auch die Geschäfte des Landbaues, zu denen sie ihr christlicher
Seelenhirte anleitet , ^yerden vorzüglich von den Weibern betrieben,
und mehrere Rossasjsind mitMandiocca und Mais bepflanzt worden; doch
reicht dies nicht für ihren Bedarf hin, und die Regierung hatte zur Zeit
unserer Anwfsenheit veranstaltet, dass jedem Familienvater zehn Arrobas
Mandioccamehl auf ihre Kosten in dem Engenho de S. Maria abgereicht
wmrden. - Dieser precäre Zustand der Colonie, und vorzüglich die Unwegsamkeit
der Minasstrasse, durch welche die Ansiedlung veranlasst worden
war;: lässt furchten, dass sie keinen langen Bestand haben werde. Der
ehrwürdige Frey L udo vico hatte sich zwar vorgenommen, selbst noch
in die ^westlichen Wälder einzudringen, um die zerstreuten Camacans-
Indianer an seinem Altäre zu vereinigen; doch war dies vielleicht eine zu
schwere Aufgabe für den rüstigen Greis. E r hatte uns vvieder an die
Idee der Menschheit in ihrer vollen Herrlichkeit erinnert, die w ir bei seinen
Pfleglingen vergeblich suchten; sein Gemüth war in einer steten Erhebung
durch die lebendige Ueberzeugung von der Würde seines schweren
Berufes, ja es hatte selbst im Alter noch die W armé erhalten, um
die'Schönheiten des göttlichen D a n t e , des edlen T asso zu fühlen, deren
W e rk e , als den Schatz seiner Bibliothek, er uns mit heiterem Wohlgefallen
zeigte. Solche Erscheinungen versöhnen mit dem Einflüsse Euro-
pa’s auf den neuen Continent, wo unsere Civilisation so reichen Saamen
der Zerstörung ausgesäet hat. Durchdrungen von diesen Gefühlen nahmen
II. Theil. 89