
B.
P h y s i o l o g i s c h e r Thei l .
§• 125.
E i n l e i t u n g .
D ie altern und selbst ein grosser Theil der spätem Aerzte
brachten ihre p h y s i o l o g i s c h e n Ke n n t n i s s e selten zu
allgemeinen Anschauungen, ihr Geist klebte nur an dem Einzelnen
, welches er freylich oft mit grosser Mühe bis in die
kleinsten Verschiedenheiten zu verfolgen suchte, nie aber erhob
er sich zu jener erfreulichen Höhe, von wo aus er das bunte
Gemisch der gemachten Erfahrungen, ja oft den Wirrwarr der
sich entgegenstehenden Erscheinungen zu einem geregelten
Ganzen ordnen, und so erst den wahren Grund jedes Einzelnen
bestimmen konnte. Daher blieb die Phy s i o 1 ogie derjenigen
frühem Aerzte, welche sie auf anatomische Kenntnisse,
und nicht auf leere Speculationen zu bauen strebten, doch
fast immer nur eine Lehre von dem sogenannten Nutzen der
Theile, und so wie es damals keine allgemeine Anatomie gah,
so fehlte ihnen auch das höchste der Physiologie, nämlich der
allgemeine Theil derselben. Man war und ist wohl auch selbst
heut zu Tage noch zufrieden, wenn man z. B. wusste, dass die
Leber zur Gallenbereitung diene, und kümmerte sich weiter
nicht, in welchem wichtigen Yerhältniss das ganze Lebersystem
einmal zum Gefässsystem, und dann zu allen übrigen
Systemen des ganzen Körpers stehe; daher jene mangelhaften
Ansichten über den sogenannten Nutzen der Leber,
daher jene einseitigen Bestimmungen ihrer doch so hoch wichtigen
Function. — Erst seitdem ein regerer Geist das Studium
der Aerzte beseelt, seitdem sie namentlich den Menschen
nicht mehr als ein isolirtes Ganzes, sondern stets und in
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jeder Hinsicht nur als einen mit den übrigen Gliedern der ganzen
Schöpfung eng verbundenen Theil ansahen, und ihn vor
allem in seinen verschiedenen Beziehungen mit der ihm zunächst
stehenden Thierwelt verglichen; seitdem sie also eine
c omp ar a t ive Wis s e n s c h a f t von seinem Bau und Verrichtungen
schufen, seitdem sie mit einem Worte p h i l o s op h i s c h
zu Werke gingen, und in jedem einzelnen Ding die V^elt, und
in dieser das Individuum suchten, seit dieser Zeit hat eine Epoche
in der Physiologie begonnen, von der wir das Höchste vom
Menschen erwarteu dürfen.
Wenn nun aber, wie uns jeder Schritt in die Vorzeit
sagt, die anatomisch - physiologischen Kenntnisse selbst über
die wichtigsten Organe unsres Körpers erst in der neuesten
Zeit diese fruchtbare Bahn zu verfolgen anfingen, was sollen
wir von der Lehre über Organe erwarten, die an der Gränzli-
nie des Körpers, gleichsam ausserhalb derselben stehend, und
fast mehr der äussern Natur angehörend, auf der untersten
Stufe der organischen Bildung begriffen, und daher unfähig
sind, durch ihren Einfluss auf das Ganze, dem sie so zu sagen,
nur anhängen, die Aufmerksamkeit in so fern auf sich zu heften,
dass sich die Aerzte bemüht hätten, ihre wahre physiologische
Bedeutung in allen Beziehungen zu erforschen? Wer
kann sich also noch wundern, dass die ganze Lehre der Haare
und Nägel in ein Kapitel verschmolzen, und in zwey Paragraphen
abgethan wurde? Leider steht aber dieses offene Be-
kenntniss selbst bis auf unsre neueste Zeit beynahe noch in seiner
ganzen niederschlagenden Blösse in voller Kraft, indem sicherst
da und dort eine und die andere Stimme hören liess, um auch
die Haare aus ihrer unverdienten Geringschätzung heraus zu
ziehen, in diese dicke Finsterniss über ihre wahre Bedeutung
in der Natur einiges Licht zu verbreiten, und ihnen auf solche
Art den gebührenden Platz in der organischen Welt zu sichern;
da hingegen die grosse Mehrzahl der Naturforscher und Aerzte
sich noch immer begnügt, sie für pflanzenartige Gebilde
schlechtweg zu halten, deren eigentlicher Zweck noch nicht
nach Wunsch ergründet , übrigens wohl auf Bedeckung der
Körperoherfläche; auf Zierde der Form, und vielleicht noch
auf einige zufällige Verhältnisse zu beziehen sey. — Indem
ich mich also dem mühsamen Geschäfte unterzogen habe, die
Haare als einen nicht zu übersehenden Theil der organischen
Schöpfung zuerst in dem Pflanzen- dann in dem Thierreich,
Eble’s Lehre von d, Haaren II. Bd.