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Nach der gewöhnlichen) und wahrlich mit Unrecht von
Andern etwas verächtlich behandelten Ansicht der practischen
Aerzte wirft sich nämlich jene krankhafte Materie statt auf die
Haare, vielmehr auf einen, für den Bestand des Lehens mehr
oder weniger wichtigen Theil des Körpers, z. B. auf das Gehirn,
die Lungen, den Magen, die Gedärme etc., und verursacht
so : Schlagfluss, Lähmung, Epilepsie, Herzklopfen, Brustfell
und Lungenentzündungen, Magen- und Gedärmentzündung,
Melancholie, Hypochondrie, Mania u. s. w., oder auf
die Augen, Ohren und Extremitäten, und macht: Augenentzündungen,
grauen und schwarzen Staar, Ohrenschmerzen,
Sausen, Geschwülste mancherley Art u. s. w.
Es fliesst daher aus diesen Thatsachen für die Behandlung
dieser Krankheit die höchst wichtige Regel, die Natur in
Verfolgung des einzig erspriesslichen critischen Weges, nämlich
in Ausscheidung dieses krankhaften Stoffes durch Nägel
und Haare nach allen Kräften zu unterstützen.
§• 184-
Aus allem diesem ist nun wohl ersichtlich, dass es mit
der bestimmten Erkenntniss des ausgebildeten Weichselzopfes
gar keine Schwierigkeiten haben könne; dagegen wird man
auf der andern Seite leicht zugeben, dass es die ganze Aufmerksamkeit
eines mit dieser Krankheit durch mehrere Jahre
vertrauten Arztes erheische, wenn es sich um die diagnostische
Bestimmung und Würdigung jener so ungeheuer verschiedenen
Erscheinungen handelt, welche ich oben als Vorboten der
Krankheit angegeben habe. In der That ist diess gerade der
Punct, welcher vom Anbeginne des Weichselzopfes bis auf
den heutigen Tag, zu vielfachen Streitigkeiten der Aerzte, und
was wichtiger ist, zu dem verderblichen Hin- und Herschwanken
der entgegengesetztesten Ansichten Veranlassung gegeben
hat. Wer unter uns würde wohl beym Auftreten jener Vorboten
einen zu Grunde liegenden Weichselzopf vermuthen?
Freylich hat diess in jenen Ländern, wo der Weichselzopf endemisch
ist, ein ganz anderes Bewandtniss; aber wie soll sich
der Arzt vollends heraushelfen, wenn jene Vorboten ohne
nachfolgende Entartung der Haare und Nägel erscheinen; wenn
also der Weichselzopf ein sogenannter verlarvter ist? Wird es
wohl in jedem Falle hinreichen, aus der Abstammung von, mit
demselben Uebel behafteten, Aeltern, aus den mannigfaltigen,
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nervösen, den rheumatischen und arthritischen gleichenden, be-
ondersvomRückgrath ausgehenden Zufällen: aus dem Andrang
der Säfte nach dem Kopfe, den angegebenen Anomalien der
Augen und Ohren, namentlich der stärkern Röthung der erstem,
dem trüben Urin, den Beschwerden in den Praecordien,
_und aus der von Si n a p i u s , La f o n t a i n e und A 1 i b e r t
als untrüglich angegebenen Entartung des Geschmacks (vermög
welcher der Kranke gewöhnlich nur eine einzige Art von Nahrungsmittel
zu sich nimmt, und woher das pohlnische Sprichwort:
Saepe sub pica latet seu foelus seu plica kommt) auf den
versteckten Weichselzopf zu schliessen?
§. 185.
Unter denjenigen Krankheiten, mit welchen sich der
Weichselzopf am häufigsten complicirt, verdient zuerst die Lustseuche
genannt zu werden, welche man inLi th auen überhaupt
ausserordentlich verbreitet finden soll. In andern Gegenden von
Pohlen sind es wieder Krätze und Flechten, nicht selten auch
der Scorbut, und vorzüglich bey Kindern die Scrophelsucht,
welche dem Uebel entweder schon vorangehen, oder sich im
weitern Verlaufe beygesellen, und die natürlich einen sehr
wichtigen, aber schwer zu beschreibenden, vorzüglich durch
die Individualität bestimmten Einfluss auf die Entstehung, den
Verlauf, und den Grad des Weichselzopfes haben.
§. 186.
A e t i o 1 o g i e.
Ueber die näc hs te Ursache des Weichselzopfes haben
von jeher die verschiedenartigsten Meinungen geherrscht, welche
ich nun kurz anführen werde. Eine der ältesten ist jene
von He r c u l e s von Saxoni a , welcher den Weichselzopf
als eine critische Ablagerung des syphilitischen Giftes auf die
Haare, also für eine eigene Form der Syphilis hielt, die durch
Klima und Lebensweise so besonders modificirt wurde.
Dieser Ansicht folgten mit kleinen Abweichungen Fulgi -
n a t u s , Hi r s c h e i , S t a b e i , und vor ihnen schon Berniz.
Joh. G. Wo l f ramm hing ihr vorzüglich desshalb an, weil
viele der Vorboten des Weichselzopfes mit den Symptomen der
venerischen Krankheit so genau übereinstimmten. Er wurde je-
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