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I. Ueber das Abschneiden der Haupt - und
Barthaare irn gesunden und kranken Zustande
des Menschen.
§• 200.
Indem ich diesen hoch wichtigen Gegenstand der T r i c h o-
logie abzuhandeln beginne, muss ich nothwendig zuvörderst
wieder auf den p hy s i o l o g i s c h e n Z w e c k , und auf die
Ar t des Wa c h s t h ums der Haare aufmerksam machen,
und meine Leser bitten, jene Paragraphe dieses Werkes nachzuschlagen,
in welchen über das Angeführte weitläufiger gesprochen
wurde. Denn wenn über den Nutzen und Schaden
des Haarabschneidens entschieden werden soll, so muss man
sich vor allem vergegenwärtigen und überzeugen, welche Stufe
von Organisation diese Gebilde unter den übrigen Theilen
des Organismus erreicht, und welches individuelle Leben sie
in Beziehung auf den ganzen Körper des Menschen zu führen
haben; vor allem aber muss nie vergessen werden, dass sie als
integrirende Theile des Organismus eben so gut belebt sind,
als die übrigen, und dass sie demnach, so wie sie einerseits ihr
Leben dem Total-Organismus danken, so auch Avieder andrerseits
auf diesen bestimmend zurückzuwirken im Stande sind.
Ferner ist es für den Vorgesetzten Zweck von der grössten
Wichtigkeit, zu bedenken, dass die Haare einer dreyfachen
Function vorstehen, dass sie se- und excernirende, einsaugende
und electrisch isolirende Organe sind, und eben dadurch eine
weit bedeutendere Rolle übernehmen, als man gemeinhin zu
glauben scheint.
In wie fern ein jeder dieser drey Processe wirklich von
Statten gehe, ist früher in dem physiologischen Theil dieses
Werkes angeführt worden, und es handelt sich jetzt nur darum,
die Wichtigkeit derselben mit dem Abschneiden der
Haare in Verbindung zu bringen.
Zu diesem Ende stelle ich folgende Puncte auf:
1) Nachdem die Haare Theile des Körpers sind, d. h. durch
die Bildungsthätigkeit desselben unter den nothwendigen
Verhältnissen entstehen und wachsen, so folgt, dass sie
mit dem ganzen reproductiven Leben des Organismus in
genauer Verbindung stehen. Da ferner zur Bildung und
zum Wachsthume eines jeden Organes ein bestimmter
Grad von Lebensthätigkeit, und als Substrat derselben
eine geeignete Materie erforderlich ist, so folgt weiter,
dass diess auch von der Bildung der Haare gelten müsse.
2) Ich habe früher durch theoretische und practische Gründe
erwiesen, dass das Wachsthum der Haare, welches
der Natur überlassen, eine gewisse Länge nie überschreitet,
ungemein befördert werden könne, wenn man dieselben
sehr oft abschneidet. — Man wird daher in Beziehung
auf den vorigen Punct leicht einsehen, dass durch das öftere
Abschneiden der Haare mittelst des dadurch hervorgerufenen
stärkern Wachsens derselben, dem Körper im
Allgemeinen eine verhältnissmässig viel grössere Menge an
Kraft und Materie entführt werden müsse, als ohne dasselbe.
3) Die Haare sind, wie oben bewiesen wurde, dazu bestimmt,
gewisse Stoffe theils zu ihrer eigenen Bildung vom Organismus
selbst zu beziehen, theils andere der Aussenwelt
abzugeben. In beyderley Vorgängen kann aber die Natur,
so wie in allen ihren Processen ein gewisses, ursprünglich
vorgezeichnetes, Mass nicht ohne Schaden überschreiten.
Es fragt sich also, welches dieses richtige Mass sey ?
So schwierig dieser Gegenstand beym ersten Anblick zu
entscheiden scheint, so trage ich doch kein Bedenken, die
Frage dadurch zu lösen, dass ich auf den Naturzustand
des Menschen zurückgehe , und ihn mit dem der Thiere
vergleiche. In Hinsicht des erstem finden wir, dass einerseits
schon dadurch, dass die Haare nur bis auf eine gewisse
Länge wachsen, und andererseits die meisten wril-
den Völker dem Haarwuchs freyen Lauf lassen, ein wichtiger
Wink für das Normalverhältniss des fraglichen Punctes
gegeben sey. Rücksichtlich der Thiere kenne ich kein einziges,
das von der Natur behaart erschaffen, und dem der