nativen Zustand darstellen, so können sie a priori gar keine systematische oder biologische Bedeutung
haben und die diesbezüglichen Untersuchungen wären ebenso sinn- und zwecklos, als wenn sich
jemand mit der histologischen Untersuchung eines trocken aufbewahrten Insektes abmühen würde.
Da aber die Ergebnisse und der Wert meiner Untersuchungen mit diesem Umstand stehen oder
fallen, möchte ich, als prinzipielle Grundlage meiner Untersuchungen, die folgenden Sätze voraus-
schicken, welche nach der vergleichenden Untersuchung eines ziemlich reichen, lebenden oder frisch
sezierten, unlängst oder vor Jahrzehnten konservierten, in verschiedenen Flüssigkeiten auf bewahrten
Materials als Erfahrungstatsachen erzielt wurden.
1. Der Kalk kommt in der Cuticula d?r Crustaceen — wenn überhaupt — amorph oder kristallinisch
vor.
2. Kristallinischer Kalk befindet sich in der Cuticula der le b e n d e n Tiere sehr oft.
3. -Amorpher oder kristallinischer Kalk können n e b e n e in a n d e r , in derselben Extremität, in
derselben Körperregion eines Tieres auftreten.
4. Für die biologisch-physiologische Beurteilung des Panzers ist es ganz gleichgültig, ob der
Kalk sofort kristallinisch ausfällt oder aber der amorph eingelagerte Kalk- in dem lebenden Tier
umkristallisiert.
5. Der amorphe Kalk kann im Wasser oder in Konservierungsflüssigkeiten Umkristallisieren,
aber er bildet dann nie einen geschlossenen, zusammenhängenden Mosaikpanzer.
6. Auch bei kristallinischem Kalk können nachträgliche Umkristallisationen voxkommen; aber die
ursprüngliche Struktur und der Zusammenhang des Panzers wird nie bis zum Verkennen verschleiert.
7. Primäre Struktur und sekundäre Bildungen können voneinander folgendermaßen unterschieden
werden:
Primäre Struktur:
a) Es ist ein geschlossener, zusammenhängender Mosaikpanzer
vorhanden.
b) Die Bausteine des Mosaikpanzers sind körnige,
tafelige, zyklische Einzelkristalle oder Sphärit-
scheiben, welch letztere einfaches Sphäritenkreuz
zeigen. Sphärolithe sind sehr selten.
c) Die Verteilung der gepanzerten, amorph inkrustierten
und kalkfreien Stellen, also die Topographie des
Panzers ist bei jeder Art konstant und in den beiden
Antimeren symmetrisch.
d) Es treten mechanisch bedingte regelmäßige Strukturen
auf, welche sich bei jedem Exemplar der Art
wiederholen.
Sekundäre Gebilde:
a) Geschlossener Mosaikpanzer nicht vorhanden.
b) Die sekundären Gebilde sind körnige Massen, Drusen,
dendritische Bildungen, unvollkommene Sphäriten,
Rosetten, zerstreute Einzelkristalle oder Sphärolithe,
welch letztere ein BEETRAüTD’sches Kreuz aufweisen.
c) Die Lokalisation der Gebilde ist weder konstant,
noch symmetrisch, sie treten ohne Regelmäßigkeit auf.
d) Mechanisch bedingte Strukturen kommen nicht zustande.
Ich bin überzeugt, daß man mit der Berücksichtigung und Erwägung dieser Feststellungen
auch dann die wahre Natur der kristallinischen Gebilde entscheiden kann, wenn es sich, wie wir
unten mehrmals sehen werden, um eine partielle Morphoehalicose* handelt, also z. B. der Mosaikpanzer
sekundär reduziert ist. Ich denke selbstverständlich nicht an die Untersuchung abgetrennter,
kleiner Cuticularstücke oder abgetragener Gliedmaßen, sondern an eine planmäßige Prüfung ganzer
Tiere, welche von Segment zu Segment, von Bein zu Bein bearbeitet werden. Bei Bruchstücken
können natürlich Fehler unterlaufen. Wenn man aber mehrere Exemplare der Art vergleichend
eingehend untersucht und bei den Vertretern der heimischen Fauna auch lebendes Material berücksichtigt,
so sind Fehlschlüsse mindestens sehr unwahrscheinlich. Breitere Grundlage und Vergleich
sind die Zauberworte, welche unseren Untersuchungen die gewünschte Zuverlässigkeit sichern.
Problemstellung.
Die geschichtliche Übersicht lehrte, daß wir über den Kalk des Crustaceenpanzers eigentlich
recht wenig wissen. Die Modifikationen des Calciumcarbonates, die Topographie des kalkigen Panzers,
die Kristallographie der Bauelemente interessierten bisher, von einigen Fällen abgesehen, die Forscher
kaum. In noch gesteigertem Maße gilt dies von der vergleichend-morphologischen, systematischen
und phylogenetischen Bedeutung der Panzerverkalkung.
Dies ist eigentlich leicht verständlich, weil die chemische Analyse über diese Verhältnisse nichts
auszusagen vermag; man muß vielmehr zu mineralogischen Methoden greifen (Bestimmung des
spez. Gewichtes, Ätzfiguren, MEiGEN’sche Reaktion, Umwandlungsversuche, Kristalloptik), welche
einerseits oft etwas schwerfällig sind, anderseits auf die meisten Zoologen befremdend wirken. Die
Methoden der Histologie sind für die Erforschung dieser Verhältnisse gänzlich ungeeignet, weil das
Chitin, schon an und für sich schwer schneidbar, durch den eingelagerten Kalk noch mehr Widerstand
solcher Bearbeitung entgegensetzt, ja sogar sie unmöglich macht. Die Methoden zum Erweichen
des Chitins wirken gleichzeitig auch entkalkend, so daß sie völlig unbrauchbar sind. Ich glaube,
das einzige Verfahren, das, in Zusammenhang mit wenigen chemischen Reaktionen, auf die meisten
Fragen eine befriedigende Antwort zu geben vermag, ist die polarisationsmikroskopische Untersuchung.
Die Fragen, deren Beantwortung ich mit meinen Untersuchungen erstrebte, waren folgende:
1. E nthä lt die Cuticula Kalk?
2. In welcher chemischen Verbindung kommt der Kalk vor?
3. Welche kristallinischen Modifikationen treten auf?
4. Wie is t die kristallographische Erscheinung des Kalkes?
5. Wie ist der kristallinische Kalk im Körper der Tiere verbreitet?
6. Kommt amorpher und kristallinischer Kalk nebeneinander vor?
7. Is t das Vorkommen amorphen und kristallinischen Kalkes innerhalb der Art konstant?
8. Is t die Modifikation des Kalkes, Struktur und Topographie des Panzers für kleinere
oder größere systematische Einheiten charakteristisch?
9. Machen sexueller Dimorphismus oder ontogenetische Veränderungen in der Ausbildung
des Panzers sich geltend?
10. Gibt es einen Zusammenhang zwischen den Kalkverhältnissen der Cuticula und der Biologie1)
der Tiere? •
11. Sind die Kalkverhältnisse der Cuticula in der Systematik und Phylogenie nicht auszuwerten ?
12. Wie steht es mit der Verkalkung der Cuticula der Augen?
J) Hier verstehe ich unter Biologie: Ökologie + Ethologie.