Buch Vili. §. 43. 275
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Achtes Buch.
Langes Siechthum europäischer Wissenschaft überhaupt. —
Von^^Juhanus Tode bis gegen die Zeit Karls des Grossen
(363 bis gegen 800).
43.
E i n l e i t u n g .
Mein trostloseres Schauspiel als der Untergang des römischen
Weltreichs, das volle Ebenbild eines entnervten, an eigener Schuld
lano'sam dahinsiechenden Wüstlings. Die innere Kraft, die den
rönSschen Adler einst an die Grenzen der bekannten Erdoberfläche
getragen, war erlahmt; barbarische Volksstämme wurden als Söldlino^
e erst die Beschützer, bald darauf die Zerstückeier des Reichs.
Zu""einem neuen Bande aller civilisirten Völker in Europa nebst
den afrikanischen und asiatischen Ländern am Mittelmeer entwikkelte
sich das Christenthum. Anfangs, in seiner ursprünglichen
Reinheit, erweckte es in seinen Bekennern ein neues nie geahnetes
Leben, einen an Roms schönste Zeiten erinnernden Heldenmuth.
Doch sich in Grossthaten historischer Bedeutsamkeit zu entfalten,
war nicht seine Aufgabe; nur im Dulden und Beharren unter Martern
jeder Art erwies es sich unüberwindKch, und lange beschränkte
sich der christliche Glaube auf die niederem Schichten der bürgerlichen
Gesellschaft. Als er nach und nach zu den höhern und
höchsten durchdrang, und politische Bedeutung gewann, als sich
eine äussere Kirche, eine christHche Hierarchie gestaltete,
ging jene Reinheit verloren, und unter neuen Formen lebte alles
wieder auf, was stets und überall das Gefolge hierarchischen Einflusses
ausmachte, geistlicher Dünkel, dogmatischer Zank, Sectirerei,
Verfluchung und Verfolgung Andersmeinender, und ein Ringen
der mit ihrer Demuth und Armuth sich brüstenden Priesterschaft
nach Reichthum Glanz Macht, oft durch die verruchtesten Mittel.
Auf die Christenverfolgung durch die Heiden folgte mit gleicher
Erbitterung und Grausamkeit die der Heiden durch die Christen,
bald auch die Einer christlichen Secte durch die andere, und nicht
selten gingen Glaubenssatzungen, welche bei schwerer Strafe jedermann
aufs Commando bald annehmen, bald wieder wechseln
musste, aus einer Hofcabale hervor. Indess wäre es ein grosser
Irrthum, wenn man sich einbildete, ohne Hinzutritt des Christenthums
würde sich ein besserer Zustand entwickelt haben. Nicht
aus ihm selbst entsprang diese Entartung, sondern offenbar aus
der Zerrissenheit der Verhältnisse, aus dem Mangel sinnlicher wie
sittlicher Kraft der Zeit, in die es fiel; und trotz jener Entartung
bildete es vermöge seines unverwüstlichen Kerns doch einen gewissen
Mittelpunkt geistigen Lebens, woran es ausserhalb der
Kirche gänzlich gebrach. Aufstrebende Talente zog dieselbe an
sich heran, nicht allein durch Anweisungen auf das künftige Leben,
sondern auch durch sehr materielle Vortheile, welche sie darbot,
wie durch den tiefen Sinn ihrer Grundlehren.
So kam es, dass mitten in der Verkümmerung aller ältern
Wissenschaften deren jüngste Schwester, die christliche Theol
o g i e , sich einer in ihrer Art blühenden Literatur zu erfreuen
hatte. In einzelnen Kirchenvätern, zumal solchen, die, wie Bas
i l i o s , in ihrer Jugend noch mit altgriechischer Poesie und Philosophie
genährt, erst in reiferen Jahren zum Christenthum übergetreten
waren, fand sogar auch die Natur noch begeisterte Freunde.
Wenn aber sonst jede Wissenschaft die andere hebt, indem jeder
Fortschritt auf dem Gebiete des Geistes das alle Wissenschaften
umschlingende Band der Erkenntniss näher bringt, so lag es in
der Natur der christlichen Theologie, diese Wirkung nicht ausüben
zu können. Von allen früheren heidnischen Wissenschaften
unterschied sie sich wesentlich dadurch, dass sie nicht allein, wie
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