gen gezwungen zu sein glaubte. Das Reichskammergericht
in Wetzlar mochte wohl den Vorgang in Lüttich
aus diesem Gesichtspunkte angesehen haben, indem es
bereits am Tage der Entweichung des Bischofs aus eigener
Bewegung, und ohne daß ein Kläger aufgetreten
wäre, gegen die Lütticher als Empörer Exekution erkannte.
Da auch der Bischof nicht säumte, die kreisaus-
schreibenden Fürsten um die unbedingteste Vollstrek-
kung dieses Urteils zu ersuchen, so leidet es weiter
keinen Zweifel, daß er aufhörte, die Rechtmäßigkeit des
Verfahrens seiner Untergebenen anzuerkennen, sobald
er sich vor ihrer Ahndung sicher glaubte.
Gewalt also, nicht der sanft überredenden Vernunft,
sondern der physischen Überlegenheit, brachte in diesem
kleinen Staate, wie in jedem ändern, alle Veränderungen
hervor, so weit sie sich hinaufwärts in das dunkle
Mittelalter verfolgen lassen und wie sie noch vor unseren
Augen entstehen. Gewalt begründete den Frieden
von 1316, den Despotismus von 1684 und die wiedererrungene
Volksfreiheit von 1789; Gewalt soll den Richterspruch
von Wetzlar unterstützen, und sie ist es eben,
nicht die Vortrefflichkeit und innere Gerechtigkeit der
Sache, die vielleicht den Lüttichern ihre Verfassung zusichern
wird. Das ist der Lauf der Weltbegebenheiten,
wobei sich nichts so zuträgt,"wie es sich nach der a priori
entworfenen Vernunftregel zutragen sollte.
Wohin führen uns diese Erfahrungssätze? Etwa zur
Festsetzung des Begriffes von Recht ? Nein; dieser ist bestimmt
und unerschütterlich auf die uns bewußten Formen
der Sittlichkeit gegründet, nach welchen wir Befugnis
zu allen Handlungen haben, die zu unserer sittlichen
Vollkommenheit unentbehrlich sind, ohne der Vervollkommnung
anderer im Wege zu stehen. Aber das können
und sollen hier jene aus der Erfahrung entlehnten
Tatsachen beweisen, daß der Zwang, wodurch ein Recht
behauptet werden muß, von willkürlicher Gewalt nicht
unterschieden werden kann, sobald das Recht nicht außer
allem Zweifel anerkannt ist. Wenn aber die Parteien,
die zusammen einen Vertrag geschlossen haben, über
ihre Rechte in Streit geraten - wer soll dann oberster
Schiedsrichter sein? Wessen Vernunft sollen beide für
weiser und vollkommener als die ihrige erkennen? Wessen
Aussprüche sollen sie als wahr und der Natur der
Dinge gemäß befolgen? Wie, wenn die eine Partei durch
die Gründe des Schiedsrichters nicht zu überzeugen ist,
wenn sie ihn für ungerecht, bestochen oder nicht für
aufrichtig und mit sich selbst einig hält? Wird sie, wenn
er der anderen Partei das Zwangsrecht zugesteht, jedes
Bestreben, sie zu zwingen, nicht für unerlaubte Gewalttätigkeit
halten? Wo bleibt alsdann die Entscheidung? Ist
es alsdann genug, daß die eine Partei zahlreicher und
stärker ist, um alle Wahrscheinlichkeit für sich zu haben,
daß das Recht auf ihrer Seite sei? Ist es zum Beispiel hinreichend,
daß in dem Falle von Lüttich die ganze Nation
gegen einen Menschen streitet, um zu beweisen, daß er
wirklich Unrecht habe? Oder tritt der Fall nicht mehrmals
ein, wo der Philosoph und der Geschichtsschreiber
mit dem Dichter ausrufen müssen:
Victrix causa diis placuit, sed victa Catoni!*
Die vom Schicksal begünstigte Partei hatte den
Rechtschaffenen zum Feinde? Gibt es überhaupt ein anderes
untrügliches Kennzeichen eines gegründeten
Rechts als die freiwillige Anerkennung desselben von
demjenigen selbst, gegen den man es behauptet? Dies ist
der große, himmelweite Unterschied zwischen den unbedingten
Sätzen einer theoretischen Wissenschaft und
ihrer Anwendung auf das praktische Leben; so schwer,
so unmöglich ist es, in bestimmten Fällen apodiktisch
über Recht und Unrecht zu entscheiden!