Lille
In ein paar regnerischen Tagen sind wir von Brüssel
durch das Hennegau nach dieser Hauptstadt des französischen
Flanderns gekommen. Einige unbedeutende Erhöhungen
des Erdreichs abgerechnet, läuft die Heerstraße
überall in einer schönen ebenen Gegend fort und
ist auch überall so vortrefflich und dauerhaft wie jenseits
Brüssel gebaut; der Boden hat völlig dasselbe Ansehen
von Ergiebigkeit, und der Anbau verrät ebenden Fleiß.
Meist sind die Wege mit hohen Espen bepflanzt; stellenweise
zeigen sich ziemlich große Waldungen und verschönern
den Aufputz der Landschaft. Die kleinen
Städte folgen so nahe aufeinander, als wenn sie hingesät
wären, und wir freuten uns des Anscheins von Wohlstand,
der darin herrschte.
Wenige Stunden brachten uns nach Enghien, wo der
Herzog von Aremberg* sich jetzt aufhält. Sein Schloß ist
alt und baufällig, aber mit weitläufigen Nebengebäuden
versehen und mit einem Park von sehr großem Umfang
umgeben, der zum Teil im Geschmack von le Nötre,
zum Teil im englischen Geschmack angelegt ist und
einen schönen Fluß oder eigentlich einen Kanal enthält,
der zu Lustschiffahrten dient. Auf einer von diesem
Wasser gebildeten Insel überraschte uns eine Kolonnade
mit einer Menge Bildsäulen und Brustbilder von Marmor.
Die Treibhäuser, wohin uns der Herzog selbst
führte, sind ebenfalls von der neuesten englischen Einrichtung.
Wir wanderten lange Zeit unter schönen
Kirschbäumen, die mit ihren reifen Früchten prangten
und neben denen die Erdbeerbeete ihren Überfluß zur
Schau legten. Ein englischer Gärtner, ein Schüler des allgemein
berühmten Browne, war der Zauberer, der hier
im April den Reichtum des Juli hervorzubringen gewußt
hatte. Fast noch vollkommener in ihrer Art sind die
Ställe des Herzogs, wo wir eine Anzahl vorzüglich schöner
Reitpferde sahen, die ihr Eigentümer mit Namen
kannte und deren besondere Plätze er zu finden wußte,
obgleich ein unglücklicher Schuß auf der Jagd ihn vor
mehreren Jahren beider Augen beraubt hat.
Dieses harte Schicksal dünkt einen zehnfach härter,
wenn man den liebenswürdigen Mann persönlich kennt,
den es betroffen hat. Seine Gesichtsbildung gehört zu
den seltneren, wo Zartheit und Harmonie des Edlen den
Ausdruck einer höheren Empfänglichkeit hervorbringen;
er ist noch jetzt ein schöner Mann. Die Moralität
seines Charakters entspricht, wie es sich von selbst versteht,
diesen Zügen. Was man schon so oft an Blinden
bemerkte, jene innere Ruhe und eine Fähigkeit zum frohen
Genüsse des Lebens, fand ich in ihm wieder bis
zur Vollkommenheit erhöht; man möchte sagen, die
Einbildungskraft der Blinden sei unablässig so geschäftig,
wie es die unsrige nur in den Augenblicken ist, wo
wir die Augen freiwillig schließen, um, von äußeren Eindrücken
ungestört, die Bildervorräte des inneren Sinnes
schärfer zu fassen. Dieser glückliche Blinde hat mir wiederholt
versichert, daß ihn keine Langeweile und kein
Unmut verfolgt; er ist immer von der heitersten Laune
und hat seine übrigen Sinne gewöhnt, ihm den Verlust
des zartesten und edelsten erträglich zu machen. Ohne
ihn genau anzusehen, wird man in seinen Handlungen
nicht leicht gewahr, daß er seines Gesichtes beraubt ist;
er spielt alle Kartenspiele, er reitet sogar auf die Jagd,
und seine Phantasie scheint ihm Gestalten und Farben
mit ihrem ganzen mannigfachen Spiel so lebhaft zu malen,
daß er mit Wärme, als von einem gegenwärtigen Genüsse,
davon sprechen kann. Ich glaube, man tut dem
Manne unrecht, dessen Geistesauge so hell sieht und al