geringer Grad von Naturkenntnis kann uns aus diesem
Irrtum reißen. Überall stoßen wir auf Organisationen,
die wir noch nicht kennen, die wir nicht zu brauchen
wissen, deren Verhältnis zu den übrigen Erdenwesen
uns rätselhaft bleibt; und wollen wir die Augen öffnen,
so wird sich uns täglich und stündlich die Überzeugung
aufdrängen, daß wir von der Art zu sein, zu genießen,
des Daseins froh zu werden und seine Bestimmung zu
erreichen eines jeden ändern Dinges, außer dem Menschen
selbst, auf dem Wege der Empfindung nichts
Vollständiges erfahren können, indem die Natur alles
Identifizieren mit fremden Gattungen unmöglich macht.
Ein Wesen aber, mit dessen Organen wir nicht empfinden,
in dessen Lage wir uns nicht hineindenken und
hineinahnen können, von dessen innerer Vollkommenheit
können wir uns auch kein Ideal abstrahieren, und
dieses ebensowenig mit dem Gefühl, das wir von der
Schönheit seiner Gestalt haben, in eine Harmonie bringen
oder mit einer bestimmten Form bezeichnen.
Den Menschen können wir idealisieren; darum bleibt
er allerdings der höchste Gegenstand der bildenden
Kunst. Wie nun aber das Ideal gestaltet sein müßte, das
die gesamte Gattung vorstellen sollte, ist darum noch
nicht ausgemacht. Wenn wir darin übereinstimmen, daß
es über die individuelle Natur hinausgehen und, was
von Vollkommenheiten in einzelnen Personen durch
das ganze Geschlecht zerstreut ist, zu einem harmonischen
Ganzen vereinigt darstellen müsse, so wird uns
bei der Ausführung immer eines jeden individueller
Schönheitssinn im Wege stehen, und jeder Künstler, wie
er selbst moralisch groß oder klein ist, wie er auffassen,
teilnehmen und mitteilen kann, auch, wie er Gelegenheit
hatte, das einzelne Vortreffliche zu sammeln und
zu vergleichen, wird uns das Ideal seiner Phantasie mit
ändern Zügen schildern. Fürwahr also eine höchst verwickelte
Aufgabe, da, wo sich alle zuletzt auf ein unwillkürliches
Gefallen und Nichtgefallen berufen, einen
Ausspruch wagen, eine Wahl treffen zu müssen, zumal
da der Fall des Kenners, des Kunstliebhabers und überhaupt'
eines jeden, der sich auf die Beurteilung eines
Kunstwerkes einläßt, von dem Falle des Künstlers insofern
nicht verschieden ist, daß jeder von ihnen zu dieser
Beurteilung andere Fähigkeiten und Fertigkeiten mitbringt.
Auf etwas Gemeinschaftliches, auf eine gewisse Übereinstimmung
des Gefühls gründet sich indessen doch
das Bestreben eines jeden Künstlers, die tiefempfundene
Schönheit darzustellen. Es ist unstreitig, daß die
Empfindung des Wohlgefallens bei den meisten Menschen
nach einer gewissen Analogie berechnet werden
kann. Völker, deren Bildung, Erziehung, Sitten und
Wohnsitze sich ähnlich sind, werden im allgemeinen
über Gegenstände der Sinne ein übereinstimmendes Urteil
fällen und in ihren Empfindungen von Gerüchen,
Gestalten, Tönen und Geschmacksarten miteinander
harmonieren. Die eigentliche Schwierigkeit entsteht erst
dann, wenn Schönes mit Schönem verglichen und Grade
des mehr oder minder Gefälligen angegeben werden sollen.
Alsdann zeigt es sich, daß wir zur Bildung des Geschmacks,
als des echten Kunst- und Schönheitssinnes,
ebensowohl Übung bedürfen und den Beistand unserer
übrigen Gemütskräfte hinzurufen müssen, wie es zur
Vervollkommnung irgendeines ändern Gebrauches dieser
Kräfte nötig ist. Weil nun aber das Wesen des Ideals
es mit sich bringt, daß es ein Abdruck der sittlichen
Vollkommenheit in sinnlich anschaulichen Formen sei,
so scheinen zur Hervorbringung eines solchen höchstvollendeten
Werkes der menschlichen Kunst dreierlei
Requisite in der Person des Künstlers Zusammentreffen
zu müssen: erstlich eine reiche Ausstattung mit jenen