Antwerpen
Endlich haben wir erfreuliche Sonnenblicke statt des
ewigen Nebels und Regens, der uns das Vergnügen unserer
Küstenfahrt ein wenig schmälerte. Nur in Dünkirchen
lächelte die Sonne einmal zwischen den Wolken
hervor, und diesen heitern Zwischenraum ließen wir
nicht unbenutzt. In den fünf Tagen, die wir auf der
Reise von Lille hierher zugebracht haben, sind uns indes
so viele Gegenstände von mancherlei Art vor dem äußern
und innern Sinne vorübergegangen, daß Du Dich
auf einen langen Bericht gefaßt halten mußt. Wir ruhen
hier aus, ehe wir von neuem unsere Augen und unsern
Geist zur Beobachtung dieser großen Stadt anstrengen,
die ihren Ruhm überlebt hat. Es gibt vielleicht keine Arbeit,
welche so die Kräfte erschöpft als dieses unaufhörliche,
mit aufmerksamer Spannung verbundene Sehen
und Hören; allein wenn es wahr ist, daß die Dauer unseres
Daseins nur nach der Zahl der erhaltenen Sensationen
berechnet werden muß, so haben wir in diesen wenigen
Tagen mehrere Jahre von Leben gewonnen.
Der Weg von Lille nach Dünkirchen führte uns über
Armentieres, Bailleul, Cassel und Bergen. Es regnete
beinah unablässig den ganzen Tag; allein ob uns gleich
die Aussicht dadurch benommen ward, bemerkten wir
doch, daß sie im Durchschnitt denen im Hennegau ähnlich
bleibt. In Armentieres hielten wir uns nicht auf, so
gern wir auch die dortigen Leinwandbleichen in Augenschein
genommen hätten, wo man bereits die wichtige
Erfindung des französischen Chemikers Berthollet, mit
dephlogistizierter Salzsäure* schnell, sicher und unübertrefflich
schön zu bleichen, in Ausübung gebracht haben
soll. Die preußischen Bleichanstalten im Westfälischen
folgen bereits diesem Beispiel, und selbst in Spanien
wird diese Methode schon angewendet.
In Bailleul hörten wir das Volk auf dem Markte schon
wieder flämisch sprechen, und diese Sprache geht bis
Dünkirchen fort. Das Französische in dieser Gegend ist
ein erbärmliches patois oder Kauderwelsch; es ist nicht
sowohl ein Provinzialdialekt als eine Sprache des Pöbels,
der nicht seine eigene Muttersprache, sondern eine erlernte
spricht. Die hiesige Menschenrasse ist groß und
wohlgebildet; vielleicht bezieht sich die französische Redensart,
un grand flandrin, auf diese Größe, wiewohl sie
auch den Nebenbegriff des Tölpischen oder Ungeschickten
mit sich führt. In allen diesen Städtchen tragen die
Weiber jene langen Kamelottmäntel wie im Hennegau:
nur daß wir unter vielen grauen auch einige scharlachfar-
bene sahen.
Wir hielten unsere Mittagsmahlzeit zu Cassel (Mont-
Cassel), das wegen seiner romantischen Lage auf einem
Berge so berühmt, übrigens aber ein unbedeutender
kleiner Ort ist. Im Sommer, an einem hellen Tage, wäre
es fast nicht möglich, sich von diesem Anblick loszureißen.
Die nächsten Hügel haben malerische Formen und
sind ganz mit Wald gekrönt. Die unabsehlichen Gefilde
von Flandern, Hennegau und Artois liegen ausgebreitet
da und verlaufen sich in die dunkelblaue Ferne, wo nur
die hohen Kirchtürme von Bergen, Dünkirchen, Fürne,
Ypern und anderen Städten wunderbar hinausragen und
ein Gefühl von Sicherheit und ruhiger Wohnung in dieser
schattigen, mit unendlichem Reichtum abwechselnder
Formen geschmückten Gegend einflößen. O dies ist
das Land der lieblichen, der kühlen Schatten! Hier begrenzen
die hochbewipfelten, schlanken Ulmen, Espen,
Pappeln, Linden, Eichen und Weiden jedes Feld und jeden
Weg, jeden Graben und jeden Kanal; hier laufen sie
meilenweit fort in majestätischen Alleen, bekleiden die