überlegenen Seelenkräften, in deren Fülle und Harmonie
schon individuelle Größe und subjektive Vollkommenheit
gegeben ist; zweitens Schauplatz und Gelegenheit
zur zartesten Entwicklung und Ausbildung dieser
innern Energie, höchste sittliche Kultur; drittens hohe
Darstellungsgabe und innerer Trieb sowohl als äußere
Veranlassung, sie in Wirksamkeit zu versetzen.
Der Geschmack, womit das Ideal der Schönheit beurteilt
werden muß, wenn anders seine Aussprüche unparteiisch
sein sollen, setzt in demjenigen, der ihn besitzt,
das Vermögen voraus, zwischen dem Wohlgefallen
am Schönen und einem jeden anderen Interesse, welches
der Verstand oder auch die Begierde an einem
schönen Gegenstände nehmen können, zart und rein zu
unterscheiden. Die Empfindung, die das Schöne in uns
hervorbringt, ist vom Reize unabhängig und zugleich
durch keine Operation der Vernunft erklärbar. Vielleicht
ist dies der Grund, weshalb der höchste Schwung,
den die bildende Kunst zur Erreichung des Ideals sich je
gegeben hat, in den mythologischen Statuen der Alten
zu suchen ist; teils weil ihr Gegenstand hinausragte über
den gewöhnlichen Stand aller menschlichen, wirklich
existierenden Vollkommenheit, teils weil die Bildhauerei
- das abgerechnet, daß sie das Materielle dem Gefühl
und dem Auge zugleich preisgibt - jene vollkommene
Ruhe notwendig macht, welche die Betrachtung des
Schönen begünstigt, indem sie uns durch keinen patho-
gnomischen Eindruck unterbricht. Es war eine glückliche
Übereinstimmung der Kunstideen mit dem Religionssystem
jener Völker, daß man diese Muster der übermenschlichen
Schönheit und Vollkommenheit zu Gegenständen
der Anbetung erhob und ihnen dadurch
neben ihrem ästhetischen Werte, der nur von wenigen
rein empfunden werden konnte, zugleich für das Volk
ein näherliegendes Interesse gab. Dies, verbunden mit
so vielen ändern Begünstigungen, womit Verfassung,
Klima, Lebensart und vor allem angestammter Reichtum
der Organisation dem Griechen zustatten kamen, wirkte
kräftig und ohne ein zweites, wetteiferndes Beispiel in
der Geschichte zur Ausbildung des Geschmacks und zur
Erzeugung jenes allgemeinen zarten Kunst- und Schönheitssinnes,
für welchen namentlich der atheniensische
Demos so berühmt geworden ist.
Bei uns ist der reine Kunstgeschmack, in Ermangelung
alles dessen, was ihn bilden, vervollkommnen und
allgemein entwickeln konnte, nur auf wenige einzelne
Menschen eingeschränkt. Der Anblick der bloßen
Schönheit, ohne einiges Interesse, ermüdet den großen
Haufen der Künstler und Kenner, die nicht mehr das
Knie vor ihr beugen, ihr huldigen und Schutz und Gaben
von ihr erflehen. Die idealisierten Götter und Göttinnen
sind nicht mehr; Menschen von bestimmtem, individuellem
Charakter, Menschen, durch herrschende
Leidenschaften und Gemütsarten bezeichnet, sind an
ihre Stelle getreten. Die Kunst mußte also ihrem ersten,
wahren Endzweck, der Darstellung des Idealisch-Schö-
nen, untreu werden oder ihre gewohnte Wirkung verfehlen
und auf alle Herrschaft über die Gemüter Verzicht
tun. Das letzte wäre nur in dem einen Falle
möglich gewesen, wenn der Geist des Zeitalters nicht
auf den Künstler gewirkt hätte; wenn, von Zeit und Umständen
unabhängig, der künstlerische Genius, in abstrakter
Vollkommenheit schwebend, mitten unter Christen
ein Grieche geblieben wäre.
Aber Veränderung und Wechsel sind ja die Devisen
unseres so schief in seiner Bahn kreiselnden Planeten!
Der ewige Reihentanz bringt immer neue Verhältnisse,
neue Verwicklungen, neuen Kampf unserer Kräfte mit
den Kräften des Weltalls hervor; und, frei heraus bekannt,
wäre nicht der Dienst der schönen Ideale ge