chens in uns vorgeht, läßt sich dem Abwesenden mit
Worten wenig mitteilen, was seiner Einbildungskraft be-
hülflich sein könnte, sich ein ähnliches Phantom des
Kunstgebildes zu entwerfen. Die reiche Phantasie hat
hier den Vorteil vor der ärmeren, daß sie schon viele Bilder
in sich faßt, auf die man sich beziehen, mit denen
man das Geschehene vergleichen und solchergestalt sie
in Stand setzen kann, sich eine lebhafte bildliche Vorstellung
eines nie erblickten Gegenstandes zu vergegenwärtigen.
Denn, was mein Auge unmittelbar vom Gegenstände
empfing, das gibt keine Beschreibung dem
ändern wieder, der nichts hat, womit er mein Objekt
vergleichen kann. Der Botaniker beschreibe Dir die
Rose in den gemessensten Ausdrücken seiner Wissenschaft,
er benenne alle ihre kleinsten Teile, bestimme
deren verhältnismäßige Größe, Gestalt, Zusammenfügung,
Substanz, Oberfläche, Farbenmischung; kurz, er
liefere Dir eine so pünktlich genaue Beschreibung, daß
sie, mit dem Gegenstände selbst zusammengehalten,
nichts zu wünschen übrigläßt: so wird es Dir, wenn Du
noch keine Rose sahst, doch unmöglich sein, ein Bild
daraus zu schöpfen, das dem Urbild entspräche; auch
wirst Du keinen Künstler finden, der es wagte, nach
einer Beschreibung die nie gesehene Blume zu zeichnen.
Ein Blick hingegen, eine einzige Berührung durch
die Sinnesorgane, und das Bild ist auf immer seiner
Phantasie unauslöschlich eingeprägt. Was ich hier sage,
gilt in einem noch höheren Grade von Dingen, die man
vergebens in Worte zu kleiden versucht. Das Leben ist
ein Proteus, der sich tausendfältig verschieden in der
Materie offenbart. Wer beschreibt das unnennbare Etwas,
wodurch in demselben Auge bald stärker, bald gedämpfter
das innewohnende geistige Wesen hervorstrahlt?
Gleichwohl fassen wir mit den Sinnen diese
zarten Schattierungen, und der Künstler selbst vermag
ihr Gleichnis in seinen Werken darzustellen, sobald er
sie scharf ergriffen in seine Phantasie getragen hat.
Ich möchte gern noch ein wenig länger umherschweifen,
um desto eher zum Ziele zu kommen. Vergleichen,
Ähnlichkeiten und Unterschiede bemerken, ist das Geschäft
des Verstandes; schaffen kann nur die Einbildungskraft,
und in dem Objektiven sich selbst genießen
nur jene reine, innere Empfänglichkeit des Herzens, die
ich in der höheren, eigentlichen Bedeutung des Wortes
den Sinn nenne. Wir geben uns das Maß unserer Kraft
nicht selbst, mehren und mindern es nicht, bestimmen
nicht einmal die Art ihrer Äußerung. Die Spontaneität
unseres Wesens, vermittelst deren wir empfinden, ist
die gemeinste; sie ist sogar eine tierische Eigenschaft,
und beide, die Phantasie sowohl als der Verstand, setzen
den Sinn voraus, ohne welchen sie leer und unwirksam
blieben. Auch die Einbildungskraft hat man, wie mich
dünkt mit Recht, den Tieren in gewissem Grade zuerkannt
und daher der Urteilskraft einen wesentlichen
Vorzug vor ihr eingeräumt. Auf eine Rangstreitigkeit
der Seelenkräfte wollen wir uns hier nicht einlassen,
wenn man nur zugesteht, daß oft mit vieler Einsicht äußerst
wenig Phantasie verbunden ist, hingegen die höchste
schöpferische Energie des Geistes, der metaphysische
Bildungstrieb, wenn ich ihn so nennen darf,
welcher neue Wesen hervorbringt, ohne Phantasie sich
nicht denken läßt.
Auf Verstand und Phantasie wirkt man aber weit öfter
durch die Empfindung als umgekehrt. Wenn wir zum eigenen
Hervorbringen zu kraftlos, zum Urteilen und Vergleichen
zu träge sind, dann genießen wir noch durch
die Berührung verschiedenartiger Gegenstände, die auch
ohne unser deutliches Bewußtsein ihre Grade der physischen
Übereinstimmung oder des Mißverständnisses mit
uns haben, uns anziehen oder abstoßen, angenehm oder