Erst aus dem Zusammentreffen seiner Vorstellung mit
der Wirklichkeit konnte für ihn die eigene Ansicht von
einer Landschaft und ihrer Bevölkerung entstehen. So
hat er in seinem Buchtitel bewußt einen doppeldeutigen
Begriff verwendet, Ansichten: Einmal meint er damit
das Bild, das sich seinen Augen bietet, zum ändern die
persönliche Meinung über das Dargebotene. Beide Bedeutungen
des Wortes stehen bei Förster im Wechselverhältnis
zueinander, indem er dem Leser zunächst
eine möglichst objektive Ansicht im Sinne einer Schilderung
des Gesehenen liefert und sich dann durch Abwägen
und Urteilen eine ganz persönliche Ansicht über das
Betrachtete schafft. Da Förster dabei gewissermaßen laut
denkt, ist der Leser bei der Meinungsbildung beteiligt.
Das hat für ihn den Vorteil, daß ihm keine fertige Meinung
aufgedrängt wird, sondern daß ihm die Möglichkeit
bleibt, seine eigene Ansicht zu entwickeln.
Das so entstandene lebendige und vielschichtige Reisebild
ist jedoch nicht der einzige Grund für die positive
Aufnahme der Ansichten. Einen wesentlichen Anteil an
der Wirkung des Textes hat auch Försters Stil. Genauso
wie in den Ansichten Elemente unterschiedlicher Traditionen
des Reiseberichts zusammenfließen, gelang es
Förster, Elemente unterschiedlicher Schreibstile miteinander
zu verbinden. Anklänge an den Briefstil zum Beispiel
rühren daher, daß wesentliche Teile des Buches in
Briefen an seine Frau und seine Freunde vorformuliert
wurden. Diese Briefe entstanden oft noch sehr spät am
Abend, »wenn sich nach jedem Bemühen, einen Gedanken zu
Papier zu bringen, der Raum zwischen den Augenlidern sehr
verengte und ein Nebelflor das ewige Lämpchen des inneren Sinnes
zu verhüllen drohte«, wie Förster am Ende eines solchen
Briefes anmerkte. Bei der späteren Bearbeitung hat
Förster zwar alles Private ausgemerzt, die persönliche
Anrede jedoch beibehalten. Sie überträgt sich nun auf
den Leser und bringt ihn dadurch in ein vertrautes Verhältnis
zum Text. Wo Förster aber objektive Ansichten
bieten will, verfällt er in den nüchternen Ton der wissenschaftlichen
Abhandlung, der jedoch nicht allzu
lange anhält, sondern wieder in Reflexion, Schilderung
oder Plauderei übergeht.
Das Leben Georg Försters hatte schon von Kindheit an
einen bewegten Lauf genommen. Am 27. November
1754 wurde er in Nassenhuben bei Danzig (Gdansk) geboren.
Sein Vater Reinhold Förster war Pfarrer, doch gehörte
das ganze Interesse dieses umfassend gebildeten
Mannes den Naturwissenschaften. Trotz der finanziell
schwierigen Verhältnisse, in denen er mit seiner Frau
und sechs Kindern leben mußte, leistete er sich eine hervorragend
ausgestattete Bibliothek, in der sein ältester
Sohn Georg schon bald die ersten »Entdeckungsreisen«
machte. Überhaupt war ihm der Vater der einzige Lehrmeister,
der ihn in alten und neuen Sprachen, in Geschichte
und Naturkunde unterrichtete und so seine Interessen
von frühester Jugend an in bestimmte Bahnen
lenkte. Andererseits wurde der Sohn dem Vater ein unentbehrlicher
Assistent bei allen Studien und Reisen.
Schon als Elfjähriger durfte er im Frühjahr 1765 seinen
Vater nach Petersburg begleiten, wo dieser von der Zarin
Katharina II. den Auftrag bekommen hatte, die Lebensbedingungen
im neuen Siedlungsgebiet an der
Wolga zu untersuchen. Von Mai bis Oktober durchstreiften
Vater und Sohn das Land, und während der Vater
im Winter in Petersburg seinen Bericht abfaßte, hatte
Georg zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben
Gelegenheit, eine Schule zu besuchen.
Reinhold Försters Arbeit war wohl in einigen Punkten
zu kritisch geraten, so daß seine Hoffnungen auf eine
Anstellung oder wenigstens einen finanziellen Gewinn