Stadt. Die Sorgfalt, womit der breite Weg, bloß für Fußgänger,
wie eine Gartenallee unterhalten wird; die überall
willkommene, nirgends ängstlich erkünstelte Reinlichkeit;
die heiligen Schatten ehrwürdiger Linden und
Ulmen, unter denen wir wandelten; die Pracht der Blüten
in den Obstgärten rund umher; die balsamische, mit
Wohlgerüchen erfüllte Luft, in welcher kein Blättchen
sich bewegte und kaum die Nachtigallen zu flöten wagten;
die gut und einfach gekleideten Bürger, die uns einzeln
oder paarweis begegneten und uns zuletzt in der
Dämmerung ganz allein ließen; der unverhoffte Anblick
des Rheins, der hier ein stiller, kaum merklich fließender
Kanal von unansehnlicher Breite geworden ist; das
Heer der Gedanken, das sich bei diesem Genuß in uns
regte; die Heiterkeit des traulichen, einsamen Gespräches,
der kühne Flügelschlag der Phantasie von dieser
zauberischen Gegenwart hinüber in die Gefilde der Erinnerung,
und nun heilige, beglückende Schauer der
sanftesten Schwermut - wer vermag das Bewußtsein zu
beschreiben, das so ergriffen wird?
Um sechs Uhr morgens verließen wir Leiden. Von allen
Seiten um uns her ertönte ununterbrochener Gesang
der erwachenden Vögel. Die Sonne vergoldete die
Türme hinter uns. Unsere Barke umflatterten die Kiebitze,
die Brachvögel, die Schnepfen, die Meerschwalben,
und alles jauchzte und jubelte in der Luft und auf
den Wiesen. Das bunte Vieh in hundert kleinen, zerstreuten
Herden bedeckte die unermeßliche Ebene, die
mit frischem smaragdfarbenem Grün dem reinen blauen
Himmel entgegenlachte; ein leichtes Lüftchen liebkoste
die spiegelglatte Fläche des Kanals, worauf wir hinglitten,
und ein Spiegel in der Kajüte malte uns immer wieder
zum zweiten Mal die Aussichten, die in entgegengesetzter
Richtung vor unserm Auge vorüberflogen. Sogar
die wortkargen Schiffer fühlten den Einfluß des belebenden
Frühlings und glückwünschten einander naiv
und energisch zum köstlichen Wetter.
Diese Schiffer auf den Kanälen, die ich sorgfältig von
den Schiffenden zur See unterscheide, dürften leicht die
langsamsten, phlegmatischsten unter allen Einwohnern
von Holland sein, und weil die meisten Reisenden sie
beständig vor Augen, vielleicht auch von ihrer Indolenz
am meisten zu dulden haben, ist vermutlich auch von
ihnen der so allgemein bekannte Nationalcharakter abstrahiert,
der keineswegs so genau auf die übrigen
Volksklassen paßt. Ihnen begegnet nie etwas Ungewöhnliches
auf ihren Fahrten; ruhig sitzen sie da, lassen sich
und ihren Nachen vom Pferde ziehen und fühlen kaum,
daß sich das Fahrzeug unter ihnen bewegt. Alle Gegenstände
sind ihnen unterweges bekannt, alle kehren zur
gesetzten Minute wieder vor ihr Auge zurück; sie sehen
auf dem Hin- und Herwege von einer Stadt zur ändern
nichts Neues, die Passagiere ausgenommen, die ihnen so
gleichgültig sind wie die Bäume am Rain der Kanäle. Ihr
ganzes Geschäft heischt nicht die mindeste Anstrengung;
der eine führt das Ruder, der andere vorn gibt
acht auf das Seil, löset es ab, wenn die Barke unter einer
Brücke hinzieht, und greift es, sobald sie hindurch ist,
auf der ändern Seite wieder auf. Einige Augenblicke vor
der Ankunft sammelt der Steuermann die Bezahlung
von den Passagieren ein. So treibt er es den ganzen Tag,
und am folgenden Morgen geht es wieder so fort. Hieraus
entspringt jene Gemessenheit und Langsamkeit in
allen Bewegungen, die einen lebhaften Menschen oft in
Verzweiflung bringen möchte. Alles geschieht zu seiner
Minute, aber gewiß auch keine Sekunde früher. Kein
Muskel verzieht sich in dem festen, dicken, ruhigen, roten
Gesicht, wenn auch auf der Wange des Fremden die
Farbe zehnmal geht und kommt. Eine bei uns ganz ungewöhnliche
Höflichkeit, ohne die mindeste Affektation