fähig, sich an die Stelle anderer zu versetzen und die
Würde eines freien denkenden Wesens zu empfinden,
mußten sie nicht geworden sein, ehe sie das fürchterliche:
Fiat justitia et pereat mundus! (Gerechtigkeit! und
ginge die Welt darüber zugrunde!) nur ohne Schauder
aussprechen lernten! Und wenn nun vollends Menschen
das, was ihnen Gerechtigkeit dünkt, nach diesem Wahlspruch
handhaben wollen, dann - guter Himmel! -
wäre freilich wohl jener Zustand des ungebundenen
Wilden noch vorzuziehen, der sich nie von solchen
Träumern, was gerecht sei, vordemonstrieren ließ und
gleichwohl das Unrecht so lebhaft empfindet und es so
mutig aus allen Kräften zurückstößt! Auch das Ideal der
Levellers*, wenn es zur Ausführung käme, entrisse uns
alle Vorteile der sittlichen Kultur, wiewohl es seines Ursprunges
wegen immer noch verzeihlicher bleibt; denn
es entstand aus einer allzu vorteilhaften, hingegen das
Ideal der Rechtsgelehrten aus einer allzu schlechten
Meinung von unserer Natur. Zwischen den Gedankenbildern
dieser entgegengesetzten Phantasien liegt ein
Mittelweg, der um so weniger trügt, je sorgfältiger derjenige,
der ihn wandelt, bei jedem Schritte auf diese hinblickt
und, was sie Gutes haben, benutzt.
Die vierzehn Zünfte von Aachen mußten also beibehalten
werden, wenn man sich nicht aus dem einmal angenommenen
Zuschnitt einer deutschen Reichsstadt
hinausträumen wollte, so verderblich an sich, so nachteilig
allem Flor und aller Vervollkommnung der Fabriken
und Handwerker auch das Zunftwesen bleibt. Was man
tun konnte, bestand lediglich darin, die Zünfte selbst untereinander
so zu organisieren, daß eine gleichförmigere
Repräsentation durch sie bewirkt werden konnte. Seit
der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts wählen die Bürger
von Aachen, die in den Zünften eingeschrieben
sind, ihren Magistrat. Vor diesem Zeitpunkte tyrannisierte
ein sogenannter Erbrat von lebenslänglichen Bürgermeistern
und anderen Beamten die Stadt. Allein bald
fand man wieder Mittel, die alljährliche Wahl zu lenken,
wohin man wollte, und selbst das Gesetz, daß niemand
zwei Jahre lang hintereinander Bürgermeister sein darf,
wußte man so geschickt zu umgehen, daß derselbe
Mann oft zwanzig bis dreißig Jahre lang regierte, indem
er sich ein Jahr ums andere wählen ließ und in den Zwischenräumen
zwar einem ändern den Namen, jedoch
nicht auch zugleich die Macht dieser wichtigen, beinahe
uneingeschränkten Magistratur überließ. Wie dieser
Mißbrauch sich einschleichen konnte, begreift man nur,
wenn man die bisherige Beschaffenheit der Zünfte näher
untersucht. Da jede Zunft vier Ratspersonen wählt,
so hat die Intrige gewonnenes Spiel bei einer so auffallenden
Ungleichheit in der Zahl der Wählenden, wie sie
hier in verschiedenen Zünften stattfindet. Die Krämerzunft
z. B. besteht aus zwölfhundert Köpfen, und die
Kupfermeisterzunft nur aus zwölfen. Wie leicht konnte
man also nicht in solchen kleinen Zünften eine Mehrheit
der Stimmen erkaufen und mit derselben der Mehrheit
der Bürgerschaft spotten. Ein nicht minder auffallendes
Gebrechen der Verfassung besteht darin, daß ein
großer Teil der Bürgerschaft auch nicht einmal zum
Scheine im Rate vorgestellt wird und von allem Anteil
an der gesetzgebenden Macht gänzlich ausgeschlossen
ist. So verhält es sich mit der zahlreichen Weberzunft,
die wirklich keine Repräsentanten wählt und in jener
oben angeführten Zahl von vierzehn Bürgerkorporationen
nicht mitbegriffen ist. Dagegen entschädigt sie sich
aber bis jetzt durch einen Handwerksdespotismus, welcher
zum Verfall der Tuchfabriken in Aachen die nächste
Veranlassung gibt. Das Werkmeistergericht, welches
zum Teil aus dieser Zunft besteht, zwingt unter ändern
jeden Webermeister, sich auf vier Weberstühle und