Doch den Gesetzen will ich hierin weniger Schuld beimessen
als der allgemeinen Stimmung des Menschengeschlechts.
Solange es Menschen gibt, die das Leben ohne
Freiheit, an der Kette und im Kerker, noch für ein Gut
achten können, solange bedaure ich den Richter, der
vielleicht nicht weiß, welch ein schreckliches Geschenk
er dem unglücklichen Verbrecher mit der Verlängerung
eines elenden Lebens macht; aber verdenken kann ich es
ihm nicht, daß er sich von dem Geiste seines Zeitalters
hinreißen läßt. -
Unter den Merkwürdigkeiten des Ehrenbreitsteins
zeigte man uns auch das ungenähte Kleid des Heilands.
Der ungeziemende Scherz, den ein unvorsichtiger Zuschauer
sich darüber erlaubte, erregte bei einem unserer
Führer solchen Abscheu, daß er seine heftigen Äußerungen
nicht ohne ein krampfhaftes Zucken unterdrücken
konnte. War es echte Frömmigkeit? War es der verzeihliche
Aberglaube des Pöbels, was diese Wirkung hervorbrachte?
Ich vermute, diesmal keines von beiden. Es gibt
Menschen, deren Seele die Vorstellung eines schuldigen
Respekts so ganz erfüllt, daß sie bei einer Spötterei über
den geschmacklosen Galarock eines Ministers genau dieselbe
Angst empfinden würden.
In dem alten, leeren, geräumigen Dikasterialgebäude
zu Ehrenbreitstein hat der Kaufmann Gerhardi eine
neue Lederfabrik angelegt, wozu ihm der Kurfürst von
Trier auf fünf oder sechs Jahre Befreiung von allen Abgaben
bewilligt hat. In einiger Entfernung von diesem
Orte, zu Vallendar, bezieht eine große Lederfabrik ihre
Häute unmittelbar aus Buenos Aires in Südamerika. So
knüpfen der Handel und die Industrie das Band zwischen
den entferntesten Weltteilen!
Von Koblenz fuhren wir nach Neuwied und besahen
dort das Brüderhaus der Herrnhuter, nebst den mancherlei
Werkstätten dieser fleißigen und geschickten Gesellschaft.
Ihre Kirche ist ein einfaches, helles Gebäude,
das mir recht gut gefiel. An die Stelle der Agapen oder
Liebesmahle der ersten Christen ist hier ein gemeinschaftliches
Teetrinken in der Kirche eingeführt, wozu
sich die ganze Gemeinde von Zeit zu Zeit versammelt.
Meine Vorliebe zum Tee ist es nicht allein, die mich mit
diesem Gebrauche versöhnt. Wenn ich schon nicht mitschwärmen
mag, so ist mir doch eine Schwärmerei ehrwürdig,
sobald sie auf Geselligkeit und frohen Genuß
des Daseins führt. Diese Stimmung läßt sich, wie Du
leicht denken kannst, mit der herrnhutischen Einrichtung,
welche die unverheirateten Männer und Weiber
mit klösterlicher Strenge voneinander trennt, schon
nicht so leicht in eine Gleichung bringen. Ich glaube in
meiner Erfahrung hinlänglichen Grund zu der Überzeugung
zu finden, daß man in der Welt nie stärker gegen
das Böse und seine Anfechtungen ist, als wenn man ihm
mit offener Stirne und edlem Trotz entgegengeht: wer
vor ihm flieht, ist überwunden. Wer steht uns auch dafür,
daß, wo der gebundene Wille mit der erkannten
Pflicht im Kampfe liegt, die Sünden der Einbildungskraft
nicht unheilbarer und zerrüttender sein können als
die etwaigen Folgen eines gemischten und durch freiwillige
Sittsamkeit gezügelten Umgangs! Gibt es nicht wollüstige
Ausschweifungen der Seele, welche strafbarer als
physische Wollüste sind, da sie den Menschen im wesentlichsten
Teile seines Daseins entnerven? Die lehrreichen
Schriften der berühmten Guyon, die freilich wohl
in einer ganz ändern Absicht gedruckt worden sind, und
die Bekenntnisse des wackern Jamerai-Duval schildern
die Krankheit der Entzückten durch alle ihre verschiedenen
Stadien als eine metaphysische Selbstschändung. Bei
einem eingeschränkten Erkenntnisvermögen und einer
armen Einbildungskraft sind die Symptome nicht gefährlich,
und das Übel bleibt in den Schranken, die ihm die