zu entziffern, dann bliebe dieses Gemälde, falls ein
glücklicher Zufall es bis dahin erhielte, jener späten
Nachwelt ein Vereinigungspunkt mit der Blütezeit unserer
heutigen Kunst; ein Spiegel, in welchem man die Bildungsstufe
und den Geist des vergangenen Geschlechts
deutlich erkennen, und ein lebendiges, solang es Menschen
gibt, verständliches Wort, wodurch man vernehmen
würde, wie einst der Sterbliche empfand und
dachte, der dieses Zeugnis seiner Schöpferkraft hinterließ.
Kraft in Ruhe, nicht Abspannung, sondern Gleichgewicht,
dies ist das aufgelöste Problem. Wir sehen einen
Mann in Jünglingsschönheit sitzen; der Körper ruhet,
doch nur vermittelst wirkender Muskeln, und der rechte
Arm schwebt frei mit der gefüllten Schale. Indem er sie
zum Munde führen will, verliert sich sein Geist in seiner
inneren Gedankenwelt, und seine Hand bleibt, ihm unbewußt,
schweben. Schön und rein sind die Lippen von
unentweihter Reinheit. Mildelächelnd belohnen sie, wer
ihrer Stimme horcht; jetzt aber folgen sie dem Zuge
eines weicheren Gefühls. Ist es vielleicht die stille
Freude der Hoffnung? Wenigstens umschweben frohe
Gedanken den geschlossenen Mund und scheinen
gleichsam zu buhlen um die Hülle des Lautes. Niedergesenkt
ist der Blick; teilnehmende Bewunderung einer geahnten
Größe drückt die Augenlider; unter ihrer großen
schwärmerischen Wölbung, die so himmlisch rein hervortritt
aus dem Schatten der Augenbraun, steht ein
Göttergesicht vor dem inneren Auge, wogegen ihm die
mit Reiz geschmückte Erde nur Staub ist. Ein Ozean
von Begriffen liegt klar auf seiner Stirn entfaltet. Wie
heiter ist diese Stirn! Keine Begierde, keine stürmische
Leidenschaft stört den heiligen Frieden dieser Seele, deren
Kräfte doch im gegenwärtigen Augenblick so rege
sind! Vom runden, festen Kinne bis zum braungelockten
Scheitel, wie wunderschön ist jeder Zug! und wie versinkt
dennoch die Sinnenschönheit in hervorstrahlender,
erhabener Seelenstärke!
Die Deutung dieser Umrisse, dieser Züge bleibt durch
alle künftige Äonen unverändert dieselbe; je zarter der
Sinn, je reicher der Verstand, je heiliger glühend die
Phantasie, desto tiefer nur greifen sie in den unergründlichen
Reichtum, den der Künstler seinem Werke schuf.
Uns indessen kann es individueller in Anspruch nehmen;
uns erinnert es an Geschichte und an tausendfache
Beziehungen, deren ununterbrochene Kette uns selbst
mit unseren Zeitgenossen umschlingt und mit dem dargestellten
Gegenstände verbindet. Wir kennen diesen
erhabenen Jüngling. Das Buch des Schicksals einer verderbten
Welt lag auseinandergerollt vor seinen Augen.
Durch Enthaltsamkeit und Verleugnung geschärft und
geläutert, ergründete sein reiner Sinn die Zukunft. In
einsamen Wüsteneien denkt er dem großen Bedürfnisse
des Zeitalters nach. Zu edel, zu groß für sein gesunkenes
Volk, hatte er sich von ihm abgesondert, hatte es gestraft
durch das Beispiel seiner strengen Lebensordnung
und kühn gezüchtigt mit brennenden Schmachreden.
Jetzt fühlt der ernste Sittenrichter tief, daß diese Mittel
nichts fruchten: in die ekelhafte Masse selbst muß sich
der edle Gärungsstoff mischen, der ihre Auflösung und
Scheidung bewirken soll. Aufopferung, Langmut,
Liebe - und zwar in welchem, den Geschlechtern der
Erde, ja seiner rauhen Tugend selbst noch unbegreiflichem
Grade! - fordert die allgemeine Zerrüttung des
sittlichen Gefühls. Hier wagt er es, diese Eigenschaften
vereinigt zu denken, im Geiste das Ideal eines Menschen
zu entwerfen, der sie bis zur Vollkommenheit besitzt.
Bald aber dünkt es ihn, dieses Bild sei nicht ein
bloßes Werk der Phantasie, es verwebe sich mit bekannteren
Zügen, ja, er kenne den göttergleichen Jüngling, in