Beweise brauchte ich nur an das schwere Studium des so
vielfältig und so zart nuancierten Menschencharakters
zu erinnern. Je feiner die Schattierungen sind, wodurch
sich so nahe verwandte Geschöpfe unterscheiden, desto
seltener ist sowohl die Gabe der bestimmten Erkenntnis
als die Kunst der treuen Überlieferung ihres Unterschiedes
.D
er Genuß eines jeden durch die Empfindung eines
ändern gegangenen und von ihm wieder mitgeteilten
Eindrucks setzt aber eine frühere, wenngleich unvollkommene
Bekanntschaft mit dem bezeichneten Gegenstände
in uns voraus. Ein Bild, wäre es auch nur Umriß,
müssen wir haben, worin unsere Einbildungskraft die
besonderen Züge aus der neuen Darstellung übertragen
und ausmalen könne. Die bestimmte Empfänglichkeit
des Künstlers für das Individuelle erfordert daher, wenn
sie recht geschätzt werden soll, einen kaum geringeren
Grad der allgemeinen Empfänglichkeit des Kunstrichters;
und die Seltenheit dieses Grades ist ohne Zweifel
der Grund, weshalb die höchste Stufe der Kunst in allen
ihren Zweigen so leicht verkannt werden oder auch beinahe
gänzlich unerkannt bleiben kann. Was der große
Haufe an einem Gemälde, an einem Gedicht oder an
dem Spiel auf der Bühne bewundert, das ist es wahrlich
nicht, worauf die Künstler stolz sein dürfen; denn diesem
Haufen genügt die Täuschung, die ihm Erdichtetes
für Wahres unterschiebt; und wer weiß nicht, wieviel
leichter sich Kinder als Erwachsene, gewöhnliche Menschen
als gebildete täuschen lassen? Darum kann auch
nicht die Illusion als solche, sondern es muß die ganze
Vollkommenheit der Kunst der letzte Endzweck des
Künstlers sein, wie sie allein der Gegenstand der höchsten
Bewunderung des Kenners ist, der sich nicht mehr
täuschen läßt, außer wenn er mit dem feinen Epikurismus
der Kultur eben gestimmt wäre, im Beschauen eines
Kunstwerks nur den Sinn des Schönen zu befriedigen,
und wenn er auf das erhöhte, reflektierte Selbstgefühl,
welches aus der Erwägung der im Menschen wohnenden
Schöpferkraft entspringt, absichtlich Verzicht täte.
Was wäre aber die Kunst, was hätte sie, hinweggesehn
vom Sinnlichen, Erweckendes und Anziehendes für un-
sern denkenden Geist, wenn es nicht diese, dem Naturstoff,
den sie bearbeitet, eingeprägte Spur der lebendig
wirkenden, umformenden Menschheit wäre? Das Siegel
des Herrschers in der Natur ist es eben, was wir an jedem
Kunstwerk, wie das Brustbild eines Fürsten auf seiner
Münze, erblicken wollen; und wo wir es vermissen,
da ekelt die allzu sklavisch nachgeahmte Natur uns an.
Daher hat jede Kunst ihre Regeln, ihre Methodik; eine
wahrhafte Geistesschöpfung von abgezogenen Begriffen
liegt ihr zum Grunde, nach welcher der Künstler im Materiellen
wirken und der Richter ihn beurteilen muß.
Der metaphysische Reichtum, den sich der Künstler aus
unbefangenen Anschauungen der Natur erwarb, den er
in das System seiner Empfindungen und Gedanken verwebte
- den strömt er wieder über alle seine Werke aus.
So entstanden der Apoll vom Belvedere, die Medice-
ische Venus, die Schule von Athen, die Äneide, der »Ma-
homet«; so bildeten sich Demosthenes und Cicero und
Mole und Garrick. Die Ideale des Meißels und der Malerei,
der Dichtkunst und der Schauspielkunst finden wir
sämtlich auf dem Punkte, wo das einzeln zerstreute Vortreffliche
der Natur, zu einem Ganzen vereinigt, eine
nach den Denkformen unserer Vernunft mögliche, auch
von unserem Sinne zu fassende und sogar noch sinnlich
mitteilbare, aber in der lebendigen Natur nirgends vorhandene
Vollkommenheit darstellt. Göttlich groß ist das
Künstlergenie, das, den Eindrücken der Natur stets offen,
tief und innig unterscheidend empfindet und nach
seiner innern Harmonie das Treffendste vom Bezeich