Forscher, nicht von dem Menschen auf die Tiere, sondern umgekehrt von den Tieren auf
den Menschen zu schließen.1 Ich bezeichne diese wissenschaftliche Methode zur Erforschung
der vergleichenden Psychologie als die e vo lu tion ä re Methode.2
Will der Naturforscher diesen Weg betreten, so muß er dessen eingedenk sein, daß
zwar einerseits die tierischen Organismen in Bezug auf ihre Psychologie keine isolierten
Wesen repräsentieren, sondern genetisch miteinander verbunden sind, andererseits aber die
Psychik der verschiedenen Gruppen in der langen Kette des Tierreiches auf den verschiedenen
Stufen ihrer Entwicklung nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Charaktere
besitzt, welche die einzelnen Gruppen scharf voneinander abgrenzen; die auf die Lösung
irgend einer Frage hinzielenden Vergleichungen müssen daher nicht zwischen einer beliebigen
Gruppe und dem Menschen unmittelbar, sondern zuvor zwischen dieser Gruppe und
den vorhergehenden und darauffolgenden Gruppen angestellt werden.
Ein derartiges Vergleichen genügt jedoch noch nicht: es müssen noch dieselben
Lebenserscheinungen eines bestimmten Tieres in den v e r sch ied en en S tad ien se in e r
E n tw ick lu n g miteinander verglichen werden, und zwar von den ersten bis zu den letzten
Momenten ihrer Offenbarung. Hieraus ergeben sich zwei Wege für die vergleichende Erforschung
des Gegenstandes mit Hilfe der evolutionären Methode:
a) Der p h y lo g en e t is ch e W eg , worunter ich das Studium der Psychologie der
Tiere auf Grund von Materialien verstehe, welchen das Leben der Art in einer seiner Beziehungen
zu den taxonomischen Einheiten der genealogischen Systematik der Tiere zu
Grunde liegt; den leitenden Faden dieses Weges bildet die Vorstellung von der genealogischen
Verwandtschaft in der Psychik der Organismen.
b) D e r on to g en e tisch e W eg , worunter ich das Studium der Psychik der Tiere
auf Grund von Materialien verstehe, welche durch eben diese Psychik zu verschiedenen
Perioden in dem Leben des Individuums repräsentiert werden, und zwar von dem Momente
an, wo das letztere beginnt, psychisch auf die Einwirkung der Umgebung zu reagieren, B
bis zu seinem Tode; die nächstliegende Aufgabe dieses Weges ist die Vorstellung von der
Evolution der Psychik des Individuums.
Die Untersuchung der P s y ch o b io lo g ie der Hummeln, welche ich den Lesern
nachstehend vorlege, stellt einen Versuch dar, in Befolgung der angegebenen Methode die
durch die Meinungen der Naturforscher entstandenen Widersprüche aufzuklären, die darin
bestehen, daß die einen Forscher bemüht sind, die sozialen Probleme unserer Zeit durch
Hinweise auf die Biologie der gesellig lebenden Tiere zu begründen, die anderen dagegen
— den Beweis zu liefern, daß ein solcher Versuch jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrt,
1 Einige Autoren verstehen unter der objektiven Methode weniger eine Methode der Wissenschaft, als eine Aufzählung
der Bedingungen der Untersuchung und d er dabei angewandten Verfahren, aus welchem Grunde sie der subjektiven
Methode nicht ein Element der wissenschaftlichen Weltbetrachtung, sondern ein durch ihre eigene Erfahrung erworbenes
praktisches Arbeitsverfahren gegenüberstellen. De rart sind z .B . die „Methoden“ in den Definitionen von K l i n e : „Methods
in Animal Psychologie“ (Anur. Soc. o f Psychol. X , 1899) oder von M i l l s : „T he nature o f Animal Intelligence and the methods
o f investigäting“ (Psychol. Rev. VI, 1899).
* Siehe M. W a g n e r : „Die biologischen Untersuchungsmethoden in den Fragen der Zoopsychologie“ (Russisch).
(Tra v. Soc. Natur. St. Pdtersbourg, T . X X X III, liv .'2 , 1902.) ;
Um meine Aufgabe erfüllen zu können, hatte ich
1. die Eigentümlichkeiten der Psychologie festzustellen und abzuschätzen, durch welche
die „sozialen Insekten“ sich von den solitären Arthropoden überhaupt unterscheiden,
und
2. die wahre Natur des Zusammenlebens der sogenannten sozialen Insekten klarzulegen,
welches je nach der Auffassung verschiedener Autoren einer Familie, einer
Gesellschaft, einer Herde oder endlich einem Staate entspricht.
Als Objekt für meine Untersuchungen habe ich nicht die Bienen, Wespen oder
Ameisen, sondern die Hummeln gewählt, weil diese Gruppe gesellig lebender Insekten von
den Autoren (auf Grund des Nestbaues, der Unvollkommenheit der Kasten, der wenig deutlich
ausgesprochenen Arbeitsteilung) für die einfachere gehalten wird, und die evolutionäre
Methode es verlangt, daß nicht von dem komplizierteren zu dem einfacheren, sondern umgekehrt
von dem einfacheren zu dem komplizierteren geschritten werde.
Die Schlußfolgerungen, welche sich in Bezug auf die beiden erwähnten Punkte ergeben
haben, werden ein Material abgeben, das von sich aus zu der Beantwortung der
Frage führen wird, ob das Zusammenleben der Insekten als ein Glied auf dem Wege der
in der Staatenform der menschlichen Gesellschaft gipfelnden Evolution der Geselligkeit im
Tierreiche betrachtet werden kann, oder ob dieses Zusammenleben kein derartiges Glied
darstellt.
Der Verfasser.