Sowohl die Arbeiterinnen wie auch die Weibchen erscheinen demnach als Kasten,
die sich von ihrem ursprünglichen Typus entfernt haben: bei ersteren haben die mit
den geschlechtlichen Funktionen in Verbindung stehenden Organe eine Reduktion erfahren,
bei den zweiten dagegen die mit den Instinkten der Ernährung zusammenhängenden Organe.
Es ist hier der Ort, einige Worte über die Frage zu sagen, welche von diesen
beiden Kasten, die Arbeiterinnen oder die Weibchen, als p r im i t iv e r und dem Urtypus
näherstehend betrachtet werden muß? Von den Autoren wird diese Frage in verschiedener
Weise beantwortet. Was mich anbetrifft, so halte ich die Arbeitsbiene für den primordialen
Typus, und zwar aus folgenden Gründen: Die neuesten Ergebnisse über die fundamentale
Rolle der Genitaldrüsen in der Lebenstätigkeit des Organismus berechtigen uns zu der Annahme,
daß der Eintritt geschlechtlicher Funktionslosigkeit oder die Reduktion der Genitaldrüsen
auf Grund des Gesetzes der korrelativen Entwicklung allemal ;eine ganze Reihe von
sonstigen Veränderungen hach sich ziehen müsse. In welcher Richtuhg erfolgen nun derartige
korrelative Veränderungen bei wirbellosen Tieren? Hierauf gében uns gewisse Beobachtungen
an Tieren, die ihrer Geschlechtsdrüsen durch Parasiten beraubt worden
waren1, eine ganz bestimmte Antwort: das Männchen von CaYcinus maenas, bei
welchem das Parasitieren der Sacculina zur Verkümmerung der Geschlechtsdrüsen
führt, nimmt e in ig e M e rkm a le de s W e ib c h e n s an. Bei Stenorhynchus pha-
langium verschwinden die Geschlechtsdrüsen (ebenfalls infolge des Parasitierens der
Sacculina) fast vollständig, und die ; Folge dieses Verschwindens ist wiederum eine
Verringerung des geschlechtlichen Dimorphismus. Auch die Männchen von Eupa-
gurus bernhardi erwerben unter dem Einflüsse des Parasitismus vbn Phryxus paguri
Rathke gewisse Eigentümlichkeiten der Weibchen: im Bereiche des Hinterleibes treten bei
ihnen am zweiten Segmente überzählige Anhänge auf, die normalerweise nur beim
Weibchen vorhanden sind, während die übrigen Anhänge der Männchen sich in gleicher
Weise entwickeln wie bei den Weibchen und zum Tragen der Eier angepaßt sind, d. h. zu
einer Funktion, welche sie niemals ausüben werden, vor der Differenzierung der Geschlechtsmerkmale
jedoch wahrscheinlich ausgeübt haben. Von besonderem Iriteresse ist der nachstehende
Fall: Ein Krebs, den G iard künstlich von seinem Parasiten befreite, bekam, als
er nach einem Monate sich häutete, äußere Merkmale, die deutlich auf eine Rückkehr zum
normalen männlichen Typus hinwiesen; ein Umstand, der sich dadurch erklären läßt, daß
die Funktion seiner Geschlechtsdrüsen zu dieser Zeit wieder einen normalen Verlauf genommen
hatte. B - Nicht weniger Interesse bietet auch die von Eni er y mitgeteilte Tatsache
2, daß die Männchen amerikanischer Ameisen unter der Einwirkung von Parasiten
charakteristische Züge der dem Weibchen ähnlich sehenden Arbeiter erworben haben.
Auf Grund aller dieser Tatsachen können wir folgende Schlußfolgerung ziehen: Die
Reduktion der Geschlechtsdrüsen ruft korrelative Veränderungen anderer Teile des Organismus
hervor, durch welche der vorhandene Di- und Polymorphismus der Individuen der gegebenen
Art a u s g e g lich en wird; mit ander en Worten, die Reduktion der Geschlechtsdrüsen
ruft eine Rückkehr der di- und polymorphen Tiere zu deren ursprünglichem Typus hervor,
1 A l f r e d G i a r d , L a castration parasitaire, nouvelles recherches. Bull. Scient, de la France etc., 1888, III. Sé r. -1
Etude des êtres organisés. Compt.-Rend. d. scéanc. de l ’Acad d. Sc., T. CXVIII. 1894 u. a. m.
* C. E m e r y . Zur Kenntnis des Polymorphismus d e r Ameisen. Z00I. Jahrb.,-Suppl. V I I . 1904.
welcher stammesgeschichtlich der Differenzierung der sekundären Geschlechtscharaktere
voranging. Hieraus aber folgt für den speziellen Fall der Honigbiene, daß der Typus der
Arbeiterin ursprünglicher ist, als der der Bienenkönigin.
In der Tat haben wir zwei Faktoren vor uns, unter deren Einwirkung die Evolution
der Kasten vor sich gegangen ist: einerseits die Ernährungskastration der Geschlechtsdrüsen
bei den Arbeiterinnen, andererseits die parasitische Lebensweise der Weibchen. Ein
jeder dieser Faktoren übte naturgemäß seine Einwirkung auf die Veränderungen, in dem
Organismus- dieser Kasten aus. Aber in welcher Weise ?
Wir haben gesehen, daß die Wirkung der Kastration im Stande ist, diejenigen dimorphen
Merkmale auszugleichen, die hauptsächlich, wenn nicht ausschließlich, mit den Geschlechtsfunktionen
im Zusammenhänge stehen. Der Parasitismus hingegen erweist sich als ein unvergleichlich
mächtigerer Faktor, der dazu befähigt ist, eine tiefgehende Reduktion der fundamentalen
Merkmale eines Organismus E - bis zu dem allerbeständigsten derselben, dem
Nervensystem — nach sich zu ziehen.
Nach alledem ergibt sich mit Deutlichkeit, daß wir mit viel mehr Berechtigung den
Typus der Arbeitsbiene als den der Königin für primitiver erklären können; ferner daß die
charakteristischen Merkmale in der Organisation der Arbeiterin (nämlich deren Bürstchen
und Körbchen an den Beinen) keine Neuerwerbung darstellen, sondern alte Merkmale;
während andererseits die Eigentümlichkeiten der Königin (unter anderem der Verlust der
soeben erwähnten Organe der Arbeiterin) eine Folge ihrer parasitischen Lebensweise und
neue Erscheinungen sind.
Aus allen diesen und vielen anderen Gründen, von denen an verschiedenen Stellen
der vorliegenden Arbeit die Rede ist, geht zwingend hervor, daß dasjenige, was bisher für die
höchste Stufe der Geselligkeit im Tierreiche angesehen wurde, wie sie angeblich nur bei den
Hymenopteren und dem Menschen anzutreffen ist, weder die höchste, noch überhaupt irgend
eine Form der G e s e llig k e it in der wahren und einzig zulässigen Bedeutung dieses Wortes
darstellt; sondern vielmehr eine selbständige Form der Symbiose mit deutlich ausgesprochenen
Merkmalen eines Parasitismus; mit anderen Worten: Dasjenige, was bei den
sogenannten sozialen Hymenopteren als Geselligkeit bezeichnet wurde, ist eine s p e z ie lle
A r t von Parasitismus'/ welcher sich bei der Nachkommenschaft eines (oder mehrerer)
blutsverwandter Weibchen auf Grund der Parthenogenese entwickelt hat.
K a p i t e l VI.
Die Genesis und die Evolution der Geselligkeit
erfolgen nach Gesetzen und auf Wegen, von welchen das Zusammenleben der sogenannten
sozialen Insekten weit abseits liegt, und auf der Stufenleiter der Evolution dieser biologischen
Organisation — der Geselligkeit® (Ansammlung, zeitweilige und ständige Aggregation,
Herde, Horde, verschiedene Formen der menschlichen Geselligkeit, Staat) keine
einzige Stufe einnimmt.
Nachdem wir die wahre Natur der „Geselligkeit“ der sogenannten sozialen Insekten
festgestellt haben, nachdem die Tatsachen uns gezwungen haben, ihr Zusammenleben in