
Ziehungen bestehen, und wo denn eigentlich beide Wissenschaften ihren Berührungspunkt
haben, — beginnen alsbald die Meinungsverschiedenheiten, die sich nicht selten über
die gesamte Front der Argumentation der Widersacher erstrecken. Den Ausgangspunkt in
der Polemik, welche die Anhänger der verschiedenen Ansichten über den Gegenstand miteinander
ausfechten, bildet die Frage: was stellen die Gesellschaft und der Staat vor, und
woher können in ihrem Leben Gesetze der Biologie mehr oder weniger ausgedehnte Anwendung
finden und finden sie auch in der Tat? — Bezüglich dieser Frage finden wir in der
einschlägigen Literatur zwei Kategorien von Ansichten.
Zu der einen dieser Kategorien gehören diejenigen Autoren (und zwar bilden dieselben
die Mehrheit), welche die Gesellschaft für einen Organismus5 ansehen; dabei ist
dieser Organismus nach der Auffassung der einen kein realer Organismus, sondern ein
dem wahren, morphologischen durchaus analoger Organismus (hierzu gehören C om p te ,
S p ence r , S c h ä f fle , A. F o u illé e u.A.m.), nach der Auffassung Anderer sind Gesellschaft
und Staat echte, reale Organismen (Lilienfeld-Worms), während endlich eine dritte Gruppe
von Forschern die Gesellschaft für einen Organismus sui generis erklärt, der gleich dem
tierischen Organismus ein Nervensystem besitzt, nämlich die Summe von Gehirnen der die
Gesellschaft oder den Staat ausmachenden Individuen (A. Fouillée).
Zu der anderen Kategorie gehören diejenigen Autoren, die die Gesellschaft (und
den Staat) als da s P r o d u k t e in e r F am i l ie ansehen, die auf den Instinktender
Fortpflanzung beruht; die Blutsverwandtschaft ihrer Glieder untereinander ruft bei dem
Übergange der Familie in die Gesellschaft die Entstehung des a ltru is tisch en , G efü h le s
hervor, welches dazu dient, die Elemente der Gesellschaft untereinander zu einem organischen
Ganzen zu verbinden. Für die Autoren dieser Kategorie stellt sich die Stämmes-
geschichte der Gesellschaft in folgender Gestalt dar:
1) Das Paar.
2) Die Familie.
3) Die Gesellschaft.
m m
4) Der Staat.
Durch ein Ausgehen von derartigen Gesichtspunkten werden die Fragen über, den
Punkt, wo siph die Soziologie an die Biologie anschließt, wie auch darüber, worin denn
eigentlich der Zusammenhang zwischen diesen beiden Disziplinen besteht, naturgemäß von
vorne herein beantwortet.
Was nun meine eigene Ansicht betrifft, so halte ich den Organismus und die Gesellschaft
durchaus nicht für gleichgeartet, sondern für prinzipiell voneinander verschieden:
der Organismus — eine so niedrige Stufe der Einfachheit er auch darbieten möge — unterscheidet
sich scharf von der Gesellschaft durch den innigen (organischen) Zusammenhang
seiner Teile untereinander, sowie durch das Vorhandensein eines Sensoriums, wie S p e n c e r
jene Elemente des Ganzen nennt, in welchen die Sensibilität konzentriert ist. Die Gesellschaft
dagegen, wie auch alle anderen Formen biologischer Organisation, worunter ich
Assoziationen von Organismen untereinander verstehe (welches auch die daraus entstehenden
gegenseitigen Beziehungen der Organismen zueinander sein mögen), ist durch Merkmale
charakterisiert, welche den angeführten diametral entgegengesetzt sind. Als solche sind
hervorzuheben: die räumliche Trennung der Teile und das Fehlen eines Sensoriums.
Alle Versuche, den radikalen und tiefgreifenden Unterschied zwischen Gesellschaft
und Organismus zu beseitigen, erscheinen mir nicht nur als der Beweiskraft entbehrend,
Sondern sie lassen meiner Ansicht nach diesen Unterschied nur noch mehr hervortreten.
Aus dem Obengesagten ergibt sich, daß ich von Individualitäten morphologischer Organismen
hier nicht zu reden brauche, indem alle Typen dieser Individualitäten der uns
interessierenden Frage ganz fernstehen.
Was dagegen die b io lo g is ch e O rg an isa tion betrifft, so werden wir uns mit derselben
zu beschäftigen haben, da von ihr in der einschlägigen Literatur, soviel mir bekannt
ist, entweder nirgends die Rede ist oder aber dieselbe von einem anderen Standpunkte aus
behandelt wird, als der meinige es ist, und weil deren genaue Feststellung für die Lösung
der zu besprechenden Frage von außerordentlicher Wichtigkeit erscheint.1
i A n m e r k u n g . Der erste A u to r , welcher die biologischen Individualitäten (jedoch nicht die biologischen
Organisationen) zur Sprache brachte, war meines Wissens G. J ä g e r (Lehrbuch der Zoologie).
Dieselben werden seiner Ansicht nach aus morphologischen Individualitäten zusammengesetzt und unterscheiden
sich von diesen dadurch, daß sie biologische Assoziationen darstellen. Eine Grenze zwischen beiden kann jedoch nach den
Worten des Autors nicht gezogen werden. Die genetischen Proze s se, durch welche die Entstehung der biologischen Individualitäten
bedingt wird, bestehen nach J ä g e r in der Fortpflanzung. E r unterscheidet:
1. Das Paar als primäre biologische Individualität; dasselbe kommt bei geschlechtlich getrennten Tieren zur Beobachtung,
während bei den Hermaphroditen dieser T ypu s von Bio-Individualitäten mit d er morphologischen Individualität
vereinigt erscheint. Die Paare können eingeteilt w e rd e n :
nach ihrer Zeitdauer in
a. temporäre,
b. während des ganzen Lebens andauernde (jihepaare),
nach d er Zahl d e r sich zusammentuenden Individuen, in
a. monogame Paare,
b. polygame Paare,
nach ihren morphologischen Merkmalen, in
a. gleichgestaltete Paare,
b. ungleichgestaltete Paare.
2. Die Familie; dieselbe kann sein:
a. ohne Haupt (ohne F ü h rer ; z . B. d er Heuschreckenschwarm u. a. m.)
b. mit. einem.Familienhaupt und zwar
eine Patriarchie, oder
eine Matriarchie (Ganse).
3. Den S ta a t, welcher aus Familien zusammengesetzt wird. Das charakteristische Merkmal des Staates is t die
Arbeitsteilung innerhalb der Gesellschaft. Diese Organisation wird nur bei den Insekten und dem Menschen angetroffen.
Mit Ausnahme des Gedankens von der Notwendigkeit, die Familie und die Gesellschaft in das Gebiet des zu
untersuchenden Gegenstandes mit einzuschließen, bieten alle Betrachtungen J ä g e r ’s eine Reihe von Irrtümern d a r , einschließlich
der Wiederholung des alten Fehlers, seine biologische Reihe (d. h. die Lehre von der Familie und d er Gesellschaft
als biologische Individualitäten) d er Reihe morphologischer Individualitäten anpassen zu wollen. J ä g e r ’s Anschauungen
darüber, daß der Staat aus d er Familie entstanden ist, daß derselbe, als eine der Formen des Zusammenlebens, das
höchste Glied in der K e tte der biologischen (sich unmittelbar an die Reihe der morphologischen anschließenden) Individualitäten
darstellt und nur bei den Menschen, den Bienen, Wespen, Ameisen )md Termiten angetroffen wird — stellen sämtlich
eine Reihe von Irrtümern dar.
Die Tatsache, daß die Gesellschaft ihren Ursprung nicht der Familie v erdankt, und daß sie nicht das höchste
Glied jener von J ä g e r vorausgesetzten Ke tte biologischer Individualitäten dars tellt, wird von selbst aus demjenigen hervorgehen,
was in dem vorliegenden Kapitel über die b i o l o g i s c h e n O r g a n i s a t i o n e n gesagt werden w i rd ; was jedoch
die Bestätigung J ä g e r ’s darüber be trifft, daß die Staatenform der Geselligkeit bei dem Menschen, den Bienen, Wespen,
Ameisen und Termiten angetroffen w ird , so beabsichtige ich au f diese F rag e — lim deren Lö sun g sich so viele hervorragende
Forsche r resültatlos bemüht h a b e n ,B in einem späteren Kapitel zurückzukommen, welches darüber handeln soll
„w a s Staaten der sogenannten sozialen Insekten vorstellen“ .
Zoologlca, Heft 46.