Der Masseninstinkt ist ein Instinkt, der den Tieren, welche sich zusammengetan
haben, die Möglichkeit verleiht, gegenseitige Einwirkungen von ganz speziellem Charakter
aufeinander auszuüben, und zwar Einwirkungen, die keine bestimmte Reaktion nach sich
ziehen, sondern nur eine allgemeine Erhöhung der Nervenerregung hervorrufen, die sich
nach jeder beliebigen Richtung hin betätigen kann. Dabei liegt die Quelle der erwähnten
Einwirkungen in Bewegungen, z. B. dem Fluge, welche die Individuen der Aggregation
voreinander ausführen, in gegenseitigen Berührungen beim Zusammentreffen, in Lärm (falls
ein entsprechend ausgebildetes Gehörorgan vorhanden ist^ im Geruch u. s. w, So erlangt
die Masse die Fähigkeit, auf die Individuen, aus welchen sie besteht, durch ihre numerische
Stärke zurückzuwirken; sie übt einen Einfluß auf die Arbeitsenergie der betreffenden
Aggregation aus, wohin diese Energie auch gerichtet Sein mag: auf Verteidigung, Flucht,
Angriff oder eine andere Tätigkeit. Die Ursachen, aus denen ein schwaches Hummelvolk
alle seine Arbeiten mit geringerer Energie ausfiihrt als ein starkes, sind im Prinzipe durchaus
identisch mit denjenigen, die die Angriffsweise der solitären Anthophora je nach ihrer
Anzahl lebhafter oder matter werden lassen, und die den „Angriff“ von io— 15 Kiebitzen
auf den Jäger bedeutend energischer gestalten, als den Angriff von ein oder zwei Vögeln
dieser Art.
Dem' gleichen Masseninstinkte begegnen wir übrigens (in Gestalt eines Überbleibsels
aus früheren Zeiten) auch in der menschlichen Gesellschaft: er ist es, durch den jene Erscheinungen
hervorgerufen werden, von welchen wir Zeuge sind, wenn wir ein ungeduldig
das Auf gehen des Vorhanges erwartendes Theaterpublikum beobachten, wie unmittelbar,
nachdem das erste einzelne mahnende Klatschen ertönt ist, ein allgemeines stürmisches
Händeklatschen beginnt. T a rd e 1 weist auf diese Tatsache hin als ein Beispiel der Offenbarung
des „Haufens“ und erkennt als die Grundlage dieser Erscheinung die Nachahmung.
Dies ist nicht ganz richtig; der „Haufe“ als Faktor, von welchem weiter unten die Rede sein
wird, spielt hier nur zum Teile eine Rolle: bevor er seine Tätigkeit mit derjenigen Gewalt
offenbart, wie sie bisweilen plötzlich an den Tag tritt, mußte das Publikum schon vorher nervös
e r re g t sein. Diese Erregung selbst hatte keinen bestimmten Charakter und war bereit; sich
in jeder beliebigen Richtung (als Bewillkommnung, Unwillen, Ungeduld, Ermunterung u.s.w.)
zu entladen. Diese unbestimmte Eiregung is’t nun gerade die Folge des von den Vorfahren
ererbten Masseninstinktes, welcher als Rudiment in der menschlichen Gesellschaft erhalten
geblieben ist: der „Haufe“ entsteht auf einer durch den Masseninstinkt vorbereiteten Grundlage.
Es braucht nicht erst betont zu werden, daß in der Genese dieses menschlichen Instinktes
weder Sympathie unter den Gliedern der Aggregation, noch Familienbande irgend
eine Rolle spielen, da dieser Instinkt ja bereits im Tierreiche beobachtet wird,, bevor
„Sympathie“ oder „Familienbande“ sieh konstatieren lassen.
Was die biologische Bedeutung des Masseninstinktes betrifft, so besteht dieselbe
augenscheinlich darin, die N e rv en en e rg ie des e inzelnen Individuums durch die-
jenige der übrigen zur Aggregation gehörigen Individuen vermittelst der oben erwähnten
gegenseitigen Einwirkung zu verstärken. Und der hierin liegende Vorteil wird um so bedeutender
sein, je mannigfaltiger sich die Möglichkeit gestaltet, die auf solche Weise erregte
Nervenenergie den anderen Individuen mitzuteilen.
1 T a r d e - L ’opinion publique e t la foule.
Ks ist noch zu bemerken, daß wir erst bei den Vögeln innerhalb der Aggregation
den Spuren eines|äOrgani|iä.tion begegnen'.' Die fa p a g d e n S B . besitzen Wächter,
auf deren Signal hin die ganze Schar sich entweder in aller Ruhe der Plünderung
hingibtf lcle^a'ber^:hleunigst davonfliegt, Diese-Rolle, welche' durchaus nickt den Charakter
einer Anführerschaft in jpjch- trägt, übernehmen bei den Papageien augenscheinlich die
älljlten Individuen. ; Die Kraniche stellen stets Wache* aus, deren Aufgabe darin besteht,
für die allgemein®icherheit Sorge* zu tragen. Wenn die^e Vöge).»veranlaßt werden, einen
Ort ausi'irgend welchem ('.runde -zu verlassen, so schicken 'sie, bevor sie an denselben zurückkehren,
Kundschafter äuS?— Dagegen Js'tl die Arbeitsteilung bei den Vögeln noch recht
wenig ausgesprochen Ablösung der VoBermänner beim Zuge, Ablösung der Wachen); es
gibt hei ihnen wede®aeiile.: Leitung, noch Anführer, noch irgend eine andere Repräsentation
der Macht.
A u f die,.>Z:Hi‘Weillg#n und be s tän d ig en A g g re g a t io n en fo lg t das Zusammenleben
in Herden^P# Tieren die. liöchststehende Form des .geihemschaftlichen Lebens.
Wir treffen -sie alii^scliiioß'irh bei den Säugetieren an.
In der Herde finden wir zum erst^Male deutlich .im’ i^chene Elemente von Macht
und Leitung: diese sind mit dem Vorhandensein eines F ü h re rs unvermeidlich verknüpft, während
die Anwesenheit: Ilj|Hletzteren wiederum eine unabänderliche Bedingung des Herdenlebens
darstcllt. Die Lebensweise in Herden finden wir belivielen Grasfressern. So leben z. B.
dih.Riudef in vielköpfigen, aus erwachsenen Tieren beiderlei :.G8$thlecht®owie ;aus jungen Individuen
begehenden 11erden',' Auster Zahl der geschleohtsicif.pit männlicher. Tiere gehen nun
l ä f e p t i l s , . a r f dem W c jfe le r e||ttt|§j81gri. NgjenbuhleÄchaft, die Führer hervor, die
Über dijffche rh igl der Herl* wachen und von übrigen* wenifte» starken Individuen
begleittet werden. Das Haupt der Hferde «rfreut f£ h eines ¡derartigen Einflusses ¡ auf deren
(Uiq'detji daß!''.«siseirH; Macht nur denjenigen unter ihnen fühlbar macht, die ebenfalls Ansprüche
auf die Führerschaft erheben möchten. Derartige Fälle werden jedoch gewöhnlich
¡¡ährt durch Kampf entschieden, worauf dieöganzelfjerde sich deSSfeger anschließt.
Die Frage über die Ge.nesis' des HerdenihstinktgS haben viele Autoren zu lösen versucht.
S p e n c e r war -esjisder zuerst seine Ansicht hierüber ausgesprochen hat. Seiner
Meinung nach war der EntwicklungSire^J d Ä Herdeninstilfkfes ' der felgendgifivh
1)63Sie Individuen.! der Herde füllten %ei drohender Gefahr Handlungen aus und geben
Laute von sich, die von den übrigjf. Individuen gesehen und gehört werden.
<*.4)'Durch die häufige Wiederholung dn^er E|§ihemung wird eine Assoziation zwischen
der Art der Gefahr und. einer bestimmten Gruppe von |||üten und Handlungen hergestellt.
H B Die angeeigneten CGewohnheiten werden erbHh ii^ertrag* und» verwandeln sich
in einen Instinkt.
Alle * Glieder in dieser Kette von Betrachtungen bedürfen der Korrektur.
i lSWenn die Individuen einer Herde in der . von dem A l t angegebenen • Wjge
Einander'gegenseitig naclialiuien. so lernen sie damit. noch nicht dem Führer nachzuahmen,
und ohne Führer ist eine Herde undenkbar.
2) Es liegt keine einzige wissenschaftlich festgestellte Tatsache vor, durch welche die
in der k l a s s i s c h e n , tierpsydiologischen Literatur a priori angenommene Doktrin beglaubigt
wird, laut w e l c h ® Gewohnheiten in erblich«.¡Instinkte übergehen können. , ;