Dritter Teil.
Allgemeine Ergebnisse und Schlussfolgerungen.
K a p i t e l I.
Die Geselligkeit der Insekten und die Geselligkeit der höherstehenden Tiere
in der einschlägigen Literatur.
Die Hummeln, Wespen, Bienen, Ameisen und Termiten bezeichnet man bekanntlich
als soziale Insekten, allein ihre Gesellschaften selbst werden bald „Familien“, bald „Kolonien“,
bald „Familiengemeinschaften“, bald einfach „Gesellschaften“, endlich — und zwar am häufigsten
— „S ta a ten “ genannt, wie sie nur bei diesen Insekten und bei dem Menschen Vorkommen
sollen. Schon dieser Ümstand allein, — der mit den allgemeinen Daten der Entwicklung
in so schroffem Widerspruche steht, indem er uns dazu zwingen würde, die Bienen,
Ameisen und Termiten nicht nur höher als die geistig am meisten entwickelten Säugetiere,
sondern (nach der Behauptung einiger Autoren) sogar über die Menschen unkultivierter
Rassen zu stellen — läßt eine derartige Auffassung der Geselligkeit bei den Insekten in
einem zweifelhaften Lichte erscheinen.
Solche Zweifel waren denjenigen Naturforschern, welche sich mit den Erscheinungen
der Geselligkeit im Tierreiche beschäftigten, schon längst aufgestiegen. Allein hier zeigte
sich wieder einmal die Macht des Hergebrachten: Die Staatenwesen der Insekten entsprechen
nicht dem Begriff der Geselligkeit in jenem Sinne, wie er aus dem Studium
der biologischen Organisationen auf deren Evolutionswege im Tierreiche hervorgeht.
Professor Dr. C la u s , einer der ersten Gelehrten, die in einer wissenschaftlichen
Arbeit Gedanken über den S ta a t der Bienen ausgesprochen haben, war gleichzeitig
der erste, der auf den erwähnten Widerspruch stieß. Indem dieser Forscher auf die hohe
.geistige Entwicklung der Affen hinweist und denselben den Bienenstaat gegenüberstellt, sagt
er folgendes:
Vielleicht werden viele durch den Umstand in Erstaunen versetzt werden, daß wir die Existenz
eines Tierstaates in seiner vollkommensten Form bei niedrigen, zu der Klasse der Insekten gehörenden
Tieren anerkennen, während wir die Bildung von Staaten selbst bei solchen viel vollkommeneren Tieren
leugnen, welchen weder eine gewisse Portion geistiger Entwicklung noch eine gewisse Fähigkeit zur Vervollkommnung
abgesprochen werden kann.
Und was antwortet Claus auf diesen Kardinalpunkt der Hypothese, wie sucht er diese
Schwierigkeit zu besiegen? Hier seine ganze Antwort:
Dieser Umstand wird dadurch erklärt, daß bei den höheren Tieren die Beschränkung der geistigen
Fähigkeiten, welche sich niemals bis zur Vernunft erheben können, der Arbeitsteilung unüberwindliche
Schranken entgegensetzt; bèi den niederen Tieren dagegen führt die schonungslose Notwendigkeit unmittelbar,
mit Umgehung der individuellen Freiheit, zu dem Ziele des gemeinsamen Lebens.
Es kommt demnach darauf hinaus, daß das Ziel eines gemeinsamen Lebens, das Ziel
eines Staatenwesens außerhalb der Interessen der diesen Staat ausmachenden Glieder liegt,
und daß eine für die höher stehenden Tiere unerreichbare Lebensform sich für die In sekten
aus dem Grunde als zu g ä n g lich erweist, weil deren g e is t ig e F ä h i g k
e iten b e s ch rän k te re sind!
Hiermit begannen die Versuche, die Schwierigkeit zu überwinden, in welche die Naturforscher
durch die Gedanken über den Staat der Hymenopteren versetzt wurden. Auf
diesen ersten Versuch folgte eine ganze Reihe anderer, die zwar auf den ersten Blick
originell erscheinen, allein indem sie in methodologischer Hinsicht miteinander übereinstimmen,
zu keinem Resultate führen konnten, das fruchtbarer gewesen wäre, als das oben
angeführte. Ich will hier nur auf einen der neuesten Versuche zur Lösung dieser unlösbaren
Aufgabe hinweisen.
Während man in Bezug auf die menschliche Gesellschaft nach den Arbeiten von
B ach o van, Mac Lenan; T e y lo r , Max. K ow a lev sk y , Gros se t und Morgan schon
zu der Annahme berechtigt war, daß die älteste Form des menschlichen Zusammenlebens
durch das „Herdenwesen“ oder die „Horde“ mit ungeregelter geschlechtlicher Gemeinschaft
der eine solche Horde zusammensetzenden Männer und Frauen repräsentiert wird, und daß
auf diese Form der Lebensweise der väterliche oder mütterliche „Stamm“ folgte, worauf sich
dann erst die „Familie“ entwickelte (welche demnach nicht etwa den ersten Beginn, den
Keim der Gesellschaft darstellt, sondern eine Folge des Zerfalles des Stammeslebens) -
setzte Ri bot auseinander, daß die Sache sich wahrscheinlich bei den Tieren ebenso verhielte,
daß also auch bei den Insekten, ebenso wie bei den höheren Tieren, nicht die Familie, sondern die
Herde den Boden abgäbe, auf welchem §ich die Geselligkeit entwickelte. Nach der Ansicht
dieses Forschers rep rä sen tie r t das Zusammenleben bei den Bienen und Ameisen
weder eine F am i l i i f noch eine G e s e lls ch a ft, sondern eine Herde, wobei die
so zia len In s tin k te d ie se r Insek ten eine hohe S tu fe e r re ich t haben und die
entsp rechenden In s tin k te v ie le r S ä u g e t ie re ü be r treffen . Dabei fügt der Autor
hinzu, daß die Geselligkeit eine der höchsten und kompliziertesten Formen der Emotion
darstelle, welche im Leben des Menschen die wichtigste Rolle gespielt haben.
Wenn dem aber so^ ist, auf welche Weise kann dann der Widerspruch zwischen
der Entwicklung der Geselligkeit und der genetischen Klassifikation beigelegt werden? Es
kann doch niemand daran zweifeln, daß die zoologische Evolution in geradetJtünie fortgeschritten
ist. .Und wie die genetische Klassifikation den Ausdruck der allmählichen Entwicklung
der Formen darstellt, so müssen auch die psychischen Fähigkeiten, welche mit
dieser Entwicklung im a llgem e inen im Zusammenhänge stehen, mit der zo o lo g isch en
E v o lu tio n im E in k la n g stehen; und dies ist zweifelsohne auch der Fall.
Dem gegenüber ergäbe sich nach der Ansicht von Ribot, daß die höchsten emotionellen
Fähigkeiten der Ameisen diejenigen einiget Säugetiere übertreffen. Wie soll man nun
diesem Dilemma entgehen, und die Schwierigkeiten dieses Widerspruches beseitigen?
„Man darf nicht vergessen,“ so lautet die Antwort des Autors, „daß die Entwicklung der Organisation
und diejenige der sozialen Instinkte nicht immer pari passu gehen. So übertreffen zum Beispiele die
Zoologica. Heft 46. 25