Schlusssätze bezüglich der geographischen Verbreitung
und der Genealogie der Erinaceidae.
n 1) Die vergleichende Untersuchung der Organisationsverhältnisse der oben behandelten
heute lebenden 17 Erinaceus-Arten lehrt, dass einige mit einander viel mehr übereinstimmen
als andere, und zwar so, dass diese 17 Arten sich auf 4 (resp. 5) Gruppen, welche hier als
Stämme bezeichnet worden sind, verteilen lassen, und welche Gruppen nicht mit einander durch
Zwischenglieder verbunden sind.
2) Innerhalb jeder dieser 4 (5) Gruppen stehen die Mitglieder einander so nahe, dass
von dem gewöhnlichen z o o g r a p h i s c h e n Standpunkte aus die meisten nicht als „Arten“,
sondern als „Varietäten“ aufzufassen wären.
3) Jede Art bewohnt ein von den ändern Arten desselben Stammes verschiedenes Gebiet.
Die Gebiete aber, welche von den verschiedenen Arten desselben Stammes bewohnt werden,
bilden eine jetzt oder doch früher zoogeographisch zusammenhängende Region.
4) Wie erwähnt, tritt nie, so viel bisher ermittelt, eine Art auf das Verbreitungsgebiet
der anderen desselben Stammes über. Dort, wo die Wohngebiete der Mitglieder desselben
Stammes sich nähern oder zusammenstossen, können morphologisch vermittelnde Formen auf-
treten, wie solche von p i c t u s -m i c r o p u s und f r o n t a l i s - a l b i v e n t r i s bekannt sind.
5) In bezug auf die Stämme mit ausgedehnterer Verbreitung (wie der p ic tu s- und fro n -
talis-Stamm) lässt sich nachweisen, dass innerhalb jedes Stammes der Grad der morphologischen
Verschiedenheit, etwa dem der geographischen Getrenntheit der Stammesmitglieder
entspricht. Beispielsweise ist anzuführen, dass innerhalb des pictus-Stammes der morphologische
Unterschied zwischen den orientalischen und äthiopischen Arten grösser ist, als der
Unterschied dieser Artengruppen in sich; ebenso weicht der nordafrikanisch - spanische al-
g iru s viel bedeutender von den äthiopischen Arten des frontalis-Stammes ab als letztere
unter sich.
6) Aus diesen Thatsachen ergiebt sich mit Notwendigkeit, dass alle Arten desselben
Stammes durch geographische (topographische) Isolation entstanden sind. Die vorliegenden
Befunde bestätigen die neuerdings von Romanes (97) gemachten eingehenden Erörterungen
bezüglich der Wirksamkeit der Isolation.
7) Dass in der That die Arten-Differenzierung innerhalb jedes Stammes hier durch Wanderung
und darauf folgende topographische Isolation erfolgt ist, erhellt aus dem bei 5 erwähnten
Umstande von dem Parallelismus zwischen morphologischer Verschiedenheit und geographischer
Getrenntheit. Denn wären die Arten durch Abänderung einer oder einiger weit
verbreiteten Arten entstanden, so wäre nicht einzusehen, weshalb zwischen Arten, welche geographisch
entferntere Gegenden bewohnen, die morphologische Verschiedenheit grösser sein
sollte als zwischen denjenigen, welche benachbarten Gebieten angehören.
8) Die jetzige geographische Verbreitung zusammengehalten mit den morphologischen
Befunden beweist dagegen, dass die heute lebenden, durch topographische Isolation gebildeten
E r in a c e u s -A r te n von 4 (5) Stammformen (welche wahrscheinlich teilweise dasselbe Gebiet
bewohnten), abstammen müssen. Wie aber aus den obigen Untersuchungen hervorgeht, ist
wohl keine der heutigen Arten, als eine dieser Stammformen anzusprechen, wenn auch, wie
ebenfalls die vorige Analyse lehrt, solche Formen wie j e r d o n i und c o l l a r i s jedenfalls nur
durch ganz untergeordnete Charaktere von ihrer respektiven Stammform ab weichen1).
9) Innerhalb verschiedener Stämme können Parallel formen, gleichartige Produkte durch
gleichartige Ursachen hervorgerufen, auftreten. Das sind somit Konvergenzformen, welche
nicht unmittelbar mit einander verwandt sind. Besonders auffällige Beispiele dieser Art Konvergenz
sind m a c r a c a n t h u s des j e r d o n i - und m e g a lo ti s des collaris-Stammes.
10) Als w a h rs c h e in lic h hat die vorhergehende Untersuchung ergeben, dass von allen
Stämmen, welche in der orientalischen und den daran grenzenden Teilen der paläarktischen
Region leben, die am wenigsten differenzierten Arten (jerdoni, c o lla ris , pictus) das nordwestliche
Indien bewohnen, dass somit dieser Teil der. orientalischen Region der Ausgangspunkt
für die fraglichen Stämme bildet. Mit dieser Auffassung harmoniert vortrefflich der
Umstand, dass, wie andere zoogeographische Befunde lehren, das nordwestliche Indien die
jetzige Verbindungsstelle zwischen der orientalischen und paläarktischen Säugetierwelt ist.
11) Wie bereits oben nachgewiesen, bestätigt die heutige Verbreitung der Mitglieder
des pictus-Stammes (siehe oben pag. 85) die auf paläontologische und zoogeographische Gründe
gestützte Auffassung einer einstmaligen Landverbindung zwischen orientalischer und äthiopischer
Region
12) J e d e n fa lls enthält entweder der jerdoni- oder der collaris-Stamm die am wenigsten
differenzierten Erinaceus-Formen. Diese Auffassung lässt sich vornehmlich dadurch begründen,
dass innerhalb dieser Stämme die Arten mit längstem Gesichtsschädel, mit ursprünglichster
Form des untern Pd4 und der Tympanalregion — besonders in bezug auf das Tympanicum-
Dach — Vorkommen; in diesen Punkten stimmen sie nämlich mehr als andere lebende E r in a ceus
Arten mit den Gym n u rin i überein. Die Entscheidung dagegen, ob der jerd o n i- oder
der collaris-Stamm der ursprünglichste ist, hängt davon ab, ob das Fehlen oder das Vorkommen
der stachelfreien Kopfpartie als der ursprüngliche Zustand zu betrachten ist. Da die
obigen Überlegungen es w a h rsc h e in lic h machen, dass das Vorkommen einer stachelfreien
Kopfpartie das Ursprüngliche ist,' und da ausserdem jerd o n i einen längeren Gesichtsschädel
hat, so haben wir Gründe anzunehmen, dass der jerdoni-Stamm und innerhalb dieses wiederum
E rin a c e u s jerd o n i der am wenigsten, differenzierte unter den lebenden E rin a c e in i ist.
13) Bemerkenswert ist, dass jeder der am wenigsten differenzierten Stämme (jerdoni-
T ) In welchfer Weise di&e 4 (5) Sfäm'me unter sich Zusammenhängen, kann zur Zeit nur durch Hypothesen
beantwortet werden, und wird diese Frage deshalb hier übergangen.