den Nachweis einer näheren Übereinstimmung resp. Verwandtschaft zweier oder mehrerer
Gruppen, während die Stammform nach wie vor unbekannt bleibt1).
Solche Resultate wirken wenig befriedigend, denn ganz abgesehen davon, dass die Stammform
nur hypothetisch erschlossen wird, so leidet die ganze Untersuchungsmethode an dem
Fehler, d a s s s ie d ie D e s c e n d e n z th e o r i e a ls e rw i e s e n v o r a u s s e t z t , a n s t a t t
B e l e g e , f ü r d i e s e l b e zu lie f e r n .
Diesen Thatsachen gegenüber können wir uns nicht verhehlen, dass die bisher angewandte
Methode unzulänglich, dass unsere Fragestellung in irgend einem Punkte nicht korrekt
ist. Der wesentlichste Mangel scheint mir auf der Hand zu liegen: d ie P h y lo g e n ie n im
g ro s s e n S tile a rb e ite n mit A b s tra k tio n e n , n ic h t mit dem von de r N a tu r s e lb s t
Gegebenen.
Jetzt, da von verschiedenen Seiten Stimmen laut werden, welche die Descendenz oder
wenigstens die Möglichkeit, eine Descendenz nachzuweisen; in Frage stellen oder verneinen,
scheint es mir ganz besonders geboten, an geeigneten Beispielen zu zeigen, dass die Annahme
eines g e n e a lo g is c h e n Z u samm enhanges de r L ebewesen, also die Annahme d e r H e rk
u n ft ein e r F o rm von e in e r a n d e ren , die einzige ist, welche mit T h a ts a c h e n
und Lo g ik ü b e reinstimm t. Gelingt dieser Nachweis, so hat derselbe, wenn auch keinen
mathematischen, so doch weit mehr als den bloss heuristischen Wert, welchen man ihm hat
zuerkennen wollen.
Aber eine solche Beweisführung muss, wie ich schon vor Jahren hervorhob, an dem
ansetzen, was die Natur selbst unmittelbar giebt, also nicht an den Kategorien der zoologischen
Systematik, denn in diesen liegt ja eine Abstraktion, etwas Subjektives. Die einzigen
Realitäten der organischen Natur aber sind die In d iv id u en , die Einzelformen. An diesen
arbeitet und modelt die Natur, nicht an unseren Typen, Klassen, Ordnungen etc. Nur durch
das Studium der Einzelformen können wir uns bis zu einem gewissen Grade von den beengenden
Abstraktionen befreien, welche sich die Biologie durch die systematischen Kategorien
auferlegt hat, nur dadurch können wir hoffen, einen Einblick in die Arbeitsmethode der Natur,
in ihr Weben und Treiben bei der organischen Formenbildung zu thun.
Da nun die experimentelle Untersuchungsmethode nur in seltenen Ausnahmefällen für
Fragen der Descendenz in Anwendung kommen kann2), so giebt es kein anderes Mittel,
1) Von den zahlreichen Beispielen in der neueren Litteratur, welche diesen Satz illustrieren, greife ich eines
der allemeuesten heraus, und zwar eine Arbeit, welche unter durchaus kritischer und scharfsinniger Berücksichtigung
aller wesentlichen Instanzen ausgeführt ist, nämlich Semons Untersuchung, über die Genealogie der Dipnoi. Sein
Schlusssatz lautet: „Entweder die Dipnoer und die Amphibien sind dem gleichen, wenn auch ganz kurzen Stamme
entsprossen. Oder aber die beiden Zweige entsprangen für sieh, wenn auch in.allernächster Nähe (jedenfalls viel näher
als die Zweige der Amphibien und Crossopterygier) der gemeinsamen Wurzel, vermutlich Urselachier mit amphistylem
Quadratum. Obwohl ich der ersteren Auffassung zuneige, gebe ich doch zu, dass bis jetzt keine Rede davon sein kann,
in dieser Frage eine sichere Entscheidung zu treffen.“ Um jeder Missdeutung vorzubeugen, will ich als meine Überzeugung
betonen, dass man zur Zeit wenigstens in d ie s e r Frage nicht weiter kommen kann, als der besagte Autor gekommen
ist.
2) Dies wird auch vqn den Vertretern der neuen analytisch-experimentellen Methode in der Morphologie eingestanden.
So sagt D r ie sch (99, pag. 46; alle Litteratumachweise sind am Schlüsse der Arbeit gegeben): „Noch
einmal soll hervorgehoben werden, dass ich die Probleme, welche die Phylogenetiker meinen bearbeiten zu können,
nämlich die Probleme der Spezifität, der Umwandlung, im Gegensatz zur Entwickelung sehr wohl sehe, aber ich sage:
das Experiment zu ersetzen, als die sy s tem a tis c h e U n te rsu c h u n g der F o rm enw an d lungen,
wie sie bei In d iv id u e n a u f tr e te n , b e tr e f f s deren g e n e tis c h e n Z u samm en h
a n g e s k e in Zw e ife l b e s te h e n kann, resp. von deren realer Verwandtschaft wir uns Gewissheit
verschafft haben. Eine solche Individuengruppe fällt wohl im allgemeinen mit dem zusammen,
was gemeinhin als „Art“ aufgefasst wird. In den individuellen Formenwandlungen aber,
in den individuellen Variationen, offenbart sich die Geschichte der genetisch zusammenhängenden
Individuengruppe, der Art. Durch derartige methodische Untersuchung möglichst vieler, einander
nahestehender „Arten“ gewinnen wir Anhaltspunkte für die Beurteilung der Modifikationen
von Art zu Art, um allmählich immer höhere Kategorien, immer weitere Formenkreise in den
Bereich unserer genealogischen Forschung zu ziehen. Die hierbei anzuwendende h is to r is c h e
Methode fordert aber unbedingt, dass das fragliche Objekt, soweit möglich, in a lle n Instanzen
der Biologie: vergleichender Anatomie, Embryologie, Paläontologie, Zoographie und Ökologie
(vornehmlich Zoogeographie) geprüft wird1).-;
wir können diese Probleme zur Zeit nicht erfolgreich in Angriff nehmen, und nur wir könnten es; was jene geleistet
zu: haben glauben, ist nur Schein, was sie höchstens geleistet haben, Vorarbeit.“ — Wenn D rie sch ferner (pag. 45)
behauptet: „Es giebt nur eine leistungsfähige Methode, und das ist die unsere; alles was sonst als Methode ausgegeben
wird, verdient diesen Namen garnicht“ , so ist erstlich daran zu erinnern, dass von seinem absprechenden Urteile der
historischen Methode nicht nur die morphologische Genealogie, sondern auch, und zwar in gleichem Masse, andere
Wissenschaften, wie Philologie, Archäologie etc. betroffen werden. Ferner liegt in D rie sch s Auffassung ein Verkennen
eines tiefgewurzelten psychologischen Dranges, welcher sich auch auf wissenschaftlichem Gebiete nie verleugnen wird:
so lange die experimentelle Methode eingestandenermassen uns kein „Wissen“ betreffs^ des genealogischen Problems
bieten kann, so wird man, anstatt auf den Moment, wo sie sich hierzu imstande sieht, thatenlos zu harren, sich mit
den zu Gebote stehenden Methoden eine. *,Meinung“ in dieser Kardinalfrage zu verschaffen suchen; denn noch nie hat
sich der menschliche Geist durch die Unmöglichkeit, die absolute Gewissheit zu erlangen, von dem S treb en danach
abhalten lassen. Beide Methoden, denke, ich, werden wohl noch lange, und zwar zum Heile der Wissenschaft, neben
einander hergehen. Die eine dieser Methoden mit D rie sch als unwissenschaftlich unterdrücken zu wollen, das scheint
mir — unwissenschaftlich. Dass D. den faktisch vorliegenden Resultaten unserer Forschung mit solchen Aussprüchen
gerecht geworden ist, davon wird er nur Wenige — trotz aller seiner Begriffsbestimmungen!^ überzeugen können.
Auch D rie sch s Kritik des sog. biogenetischen Grundgesetzes ist nicht zutreffend. „Warum durchläuft der
Säugetierembryo ein Fischstadium? Antwort: Er thut es gamicht, sondern er und die Fischembryonen durchlaufen ein
Stadium, in dem sie sich recht ähnlich, wenn schon immer noch von einander zu unterscheiden sind/' „Insofern das
Unähnlichwerden (i. e. im Verlaufe der Ontogenese) auf Hinzütreten n e u e r Merkmalsarten beruht, . . . . . scheint mir
, das Vorhandensein grösserer Ähnlichkeit auf früheren, durch wenig Merkmälsarten repräsentierten Stad ien,.............
weniger der Ausdruck eines „biogenetischen“ Gesetzes, als der eines allgemeinen Raumgesetzes zu sein, und die That-
sache, dass Formen von vielen Merkmalen solchen mit nur ganz wenigen 'Charakteren, im Embryonalstadium, wo sie
selbst -sehr wenig Merkmale besitzen, ähnlicher sind als später, fällt unter denselben Gesichtspunkt.“ Um die von D.
selbst angeführte Frage betreffs der Ähnlichkeit des Säugetier- und Fischembryos aufzugreifen, so ist z. B. ohne weiteres
klar, dass das Vorkommen der Anlage eines Kiemenapparates oder ^vorsichtiger! — von Kiemenspalten und
-bögen bei Säugetierembryonen doch wahrlich nicht der j,Ausdruck eines allgemeinen Raumgesetzes“ sein kann! Es
hat eben der Säugetierembryo a n d e r e Merkmale* durch welche er dem Fische ähnlich wird, nicht bloss w enig e r
Merkmale als das ausgebildete Individuum I ß und für diese Thatsache reicht D r ie sch s Erklärung nicht aus.
Selbstverständlich ist mit diesen Bemerkungen keine Kritik der gesamten von D r ie sch vertretenen Auffassung
gegeben oder beabsichtigt. Es schien mir nun geboten, zu einer Ansicht Stellung zu nehmen, welche durch die Bedeutung
mehrerer Arbeiten ihrer Vertreter niemals ignoriert werden kann, wenn man sich über biologische Methodik auszusprechen
hat.
1) Besonders ist vor Überschätzung einer dieser Disziplinen auf Kosten der übrigen zu warnen.
Zoologischer- und noch öfter anatomischerseits wird die Paläontologie nicht immer in gebührender Weise berücksichtigt.
Und doch ist die Paläontologie— trotz ihrer notwendigen Lückenhaftigkeit — die im strengsten Sinne his
to r i s c h e Disziplin der Biologie und als solche unsere wesentlichste Direktive und Kontrolle bei allen Stammes