In Übereinstimmung mit den oben vorgeführten Auseinandersetzungen g e h t also die
v o r lie g e n d e A rb e it d a r a u f aus, an dem h ie r g ew ä h lte n B e isp ie le zu prüfen, wie
w e it man z u r E r k e n n tn is des s tam m e s g e s c h ic h tlic h e n Z u sam m e n h an g e s Vord
rin g e n k a n n m it dem Z a h n s y s tem a ls A u s g a n g s p u n k t und d u r c h a lle in ig e Ben
u tz u n g d e s d e r z e itig v o r lie g e n d e n M a te r ia ls von v e rg le ic h e n d -a n a tom is c h e n ,
em b ry o lo g is c h e n , p a lä o n to lo g is c h e n , z o o g ra p h is c h e n und zo o g eo g rap h iseh en
T h a ts a c h e n , sow ie d u rc h v e rg le ic h e n d e A bw äg u n g und K om b in a tio n d ie s e r
T h a tsa ch e n , ohne die Z u flu c h t zu h y p o th e tis c h e n „Ur“-F o rm e n zu n ehm en ^ jen en
wesenlosen Gestalten, an denen höchstens ihr Erzeuger, selten die Wissenschaft Freude erlebt
Ich gebe mich der Hoffnung hin, dass das, was durch Anwendung dieser Methode das errungene
Gebiet an Ausdehnung etwa eingebüsst, es an Sicherheit der Resultate gewonnen hat. Damit
habe ich mich natürlich des Rechtes nicht begeben, die Möglichkeit der Lösung von Fragen,
für deren Beantwortung noch kein genügendes Thatsachenmaterial vorliegt, durch Hypothesen
anzudeuten, glaube aber das Hypothetische als Solches überall scharf bezeichnet zu haben,
so dass eine Vermengung mit dem faktisch Ermittelten ausgeschlossen ist.
Die Anordnung der Darstellung schliesst sich dem Gange der Untersuchung an. Das
Zahnsystem bildet den Ausgangspunkt, es werden die individuellen Variationen und die Formveränderungen
desselben bei den verschiedenen Erinaceiden geschildert und daraus Schlüsse
auf die Genese dieses Organsystems gezogen. Hieran reiht sich die Untersuchung der anderen
Organe, von welchen das Skelett und die Muskulatur, als für die vorliegende Aufgabe am wichtigsten,
die meiste Berücksichtigung gefunden haben. Schliesslich werden alle diese Thatsachen
zusammen mit den zoogeographischen Befunden für die Erkenntnis der Genealogie unserer
Tiergruppe verwertet.
Dagegen habe ich mich, gemäss den oben dargelegten Prinzipien, jedes Versuches enthalten,
über die H e rk u n ft der Erinaceiden (resp. ihres Zahnsystems) oder über ihre genealogischen
Beziehungen zu anderen Insektivoren eine Meinung zu äussern. Solche Versuche würden
nämlich zur Zeit nur in Hypothesen ausmünden; Grundlagen für eine wissenschaftlich befriedigende
Lösung dieser Fragen müssen erst durch die von gleichen Gesichtspunkten geleiteten
Untersuchungen auch anderer Tierfamilien, zunächst aus der Ordnung der Insektivoren,
geschaffen werden.
Solche Grundlagen zu schaffen, wird die Aufgabe der folgenden Abschnitte dieser Arbeit
sein, deren Bearbeitung teilweise schon in Angriff genommen is t1). Gestatten äussere Verhältnisse,
dieses Programm einzuhalten, so wird sich also der zweite Band zu einer Serie von Untersuchungen
gestalten, welche zwar in ihren materiellen Grundlagen von einander unabhängig
sind, von denen aber jede nachfolgende die vorhergehende voraussetzt, indem die in der vorhergehenden
Untersuchung gewonnenen Erfahrungen und Resultate mit den neu erworbenen
Ergebnissen verbunden werden. Mit jeder neu untersuchten Tiergruppe erweitern und vertiefen
sich also die Resultate, es gelangen immer höhere und höhere Kategorien zur genealogischen
Beurteilung. In der Fortsetzung dieser Arbeit, wenn es sich also um die genealogischen Beziehungen
grössere Formenkreise handelt, wird es dann auch geboten sein, Organsysteme,
welche, wie das Centralnervensystem und das Urogenitalsystem, für den Aufschluss über die
i) Vgl. L e c h e 97.
verwandtschaftlichen Beziehungen innerhalb einer einzigen Familie nicht unmittelbar fördernd
seih können, in den Kreis der Betrachtungen zu ziehen.
Solchen gegenüber, denen das schliessliche Resultat der vorliegenden Arbeit: die Ermittelung
der Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb einer einzigen Tiergruppe etwas dürftig
erscheint, möchte ich ganz besonders betonen, dass es meines Erachtens vor der Hand nicht
das Ziel der phylogenetischen Forschung sein darf, von allen möglichen Tierformen — selbst
wenn dies ausführbar wäre — Genealogien festzustellen und eine vollständige Ahnengalerie
des Tierreichs zu errichten. Bedeutungsvoller ist es zunächst jedenfalls, Einsicht in die allgemeinen
Umwandlungsgesetze, welche alle Descendenz regeln, und in ihre Wirkungen auf das
Entstehen der Tierformen zu erlangen. Und diese Einsicht kann uns, wo das Experiment nicht
anwendbar ist oder versagt, nur die mit Hülfe aller historisch-biologischer Instanzen ausgeführte
Untersuchung e in z e ln e r g e e ig n e te r Tiergruppen gewähren.
Aus den vorhergehenden Erörterungen dürfte schliesslich auch erhellen, dass weder
diese noch die folgenden Arbeiten M o n o g rap h ien , in denen die gesamte „Naturgeschichte“
der fraglichen Tiergruppe abgehandelt wird, vorstellen sollen. Ich habe deshalb auch, wie ich
hoffe, erfolgreich der Versuchung widerstände^ neue, aber für die vorliegende Aufgabe: Erforschung
der Stammesgeschichte der Erinaceidae, nicht verwertbare Thatsachen vorzuführen.
Verschiedene Untersuchungsbefunde sind darum unerwähnt geblieben.
Aus äusseren Gründen behufs Erleichterung und Vereinfachung der Darstellung —
nehmen wir schon hier ein Resultat der nachfolgenden Untersuchung vorweg und teilen die
Erinaceiden-Gattungen in zwei, als Unterfamilien zu bezeichnende Gruppen, nämlich:
- 1) Gyrnnnrini: mit N e c ro g ym n u ru s, Galerix, L a n th a n o th e rium , T e tr a c u s , Hylomys
und G ym n u ra ;
2) Erinaceini: mit P a la e o e r in a e e u s und E rin a c e u s .
Von diesen sind Hylomys und Gymnura nur durch lebende, Erinaceus sowohl durch
lebende als ausgestorbene Arten vertreten, während die übrigen Gattungen fossil sind: Necrogymnurus
aus dem Obereocän, Galerix und Lanthanotherium aus dem Mittelmiocän, Tetracus
aus dem Oligocän und Palaeoerinaeeus mit Arten aus dem Obereocän, Unter- und Mittelmocän.
Für die vorliegende Untersuchung habe ich folgendes Material benutzen können:
1) Necrogymnurus cayluxi
3) Galerix exil is *)
4) Hylomys suillus
a) Für das Zahnsystem:
1 unvollständiger Schädel, 1 Oberkiefer,
12 Unterkieferhälften in verschiedener
Erhaltung (Phosphorite des
Quercy).
2 Unterkieferstücke (ebendaher).
6 Unterkieferstücke in verschiedener
Erhaltung (Grive-St.-Alban);
div. Oberkiefer- u. Unterldeferhälften
(Steinheim).
12 Schädel, davon 2 mit Milchgebiss;
ausserdem 1 embryonaler Schädel an
Schnittserien untersucht.
Zootomisches Institut Stockholm.
Naturalien-Kabinet Stuttgart.
Zootom. Inst. Stockholm; British Museum
London; Zoolog. Museum Amsterdam;
Reichsmuseum Leiden.
1) Für Tetracus vergleiche F ilh o l (82), für Lanthanotherium F ilh o l (91')-