So etwa gestalten sich die theoretischen Forderungen, welche man an eine erfolgreiche,
wissenschaftlich massgebende genealogische Studie zu stellen hat.' In der Theorie ist diese
hier vorgeschlagene Methode wohl nicht ganz neu — leider aber in der Praxis.
In der Praxis dürfte man ausserdem einige besondere Rücksichten zu nehmen, resp.
sich oft gewisse Beschränkungen aufzulegen haben.
ZunächsHst zu bemerken, dass sich nicht jede Tiergruppe-^ zumeist infolge der Lückenhaftigkeit
unserer betreffs derselben zu erlangenden Kenntnisse I in gleichem Masse zum Gegenstand
einer solchen Untersuchung eignet. Unleugbar bieten die Wirbeltiere und unter diesen
wiederum die Säugetiere für eine erfolgreiche genealogische Beurteilung den meisten niederen
Tieren gegenüber wenigstens e in en wesentlichen Vorteil, welcher den Nachteil;:, der in ihrer'
grösseren Komplikation liegt, reichlich aufwiegt. Da die ältesten bekannten Säuger aus dem
Trias und Jura zum grössten Teile jedenfalls sehr primitive Formen sind, ist man den historischen
(d. h. paläontologischen) Anfängen dieser Klasse bedeutend näher gerückt als denen
der grossen Mehrzahl anderer Tiere, und darf man aus diesem Grunde hoffen, dass sich
einstmals auch jene Anfänge offenbaren werden, während die historisch zu erschliessenden Urformen
der meisten niederen Tiere v o r der Bildung der ältesten heute bekannten geologischen
Ablagerungen gelebt haben müssen und deshalb uns wohl stets unbekannt bleiben werden.
Ferner ist von den Wirbeltieren ein morphologisch viel wertvolleres paläontologisches Material!
(Skelett, Zahnsystem) als von den meisten Wirbellosen erhalten geblieben.
Bei Tieren von so komplizierter Organisation, wie es die Wirbeltiere sind,- wird man
sich selbstredend bezüglich der Bearbeitung der individuellen Variationen auf ein oder einige Organsysteme
beschränken müssen und das meist ohne Schaden, da anwendbare Resultate
nicht von allen zu erwarten sind, oder doch der darauf verwendeten Mühe auch nicht annähernd
entsprechen würden. Selbstredend sind alle Organsysteme — wenn auch in etwas wechselndem
Grade ■ b e i Untersuchung der Arten, Gattungen etc, zu berücksichtigen.
D a s Z a h n - Wenn ich das Zahnsystem zum Ausgangspunkt der genealogischen Untersuchung einer
A u s g a n g s - Säugetiergruppe wähle, so ist das nicht nur motiviert, sondern geradezu geboten durch den
p u n k t g e n e a - Umstand, dass sich a u f d ie s e s O rg a n sy s tem in a u s g ie b ig e r e r W eise a ls a u f irg e n d
ein a n d e r e s die d r e i In s ta n z e n d e r h is to r is c h e n Meth o d e: v e r g le ic h e n d e Ana-
s n e h u n g e n . tomie, Em b ry o lo g ie und P a lä o n to lo g ie a nw en d e n la s se n . Das Gebiss ist nämlich,
wie ich bereits früher (93; 95) hervorgehoben habe, das einzige Organsystem der Wirbeltiere,
an dem es möglich ist, die Ontogenese, wie sie sich im Sog. Milchgebiss1) offenbart, und die
wirklich historische Phylogenese (d. h. Stammesgeschichte, gestützt auf paläontologische, nicht
bloss vergleichend-anatomische Befunde) direkt mit einander zu vergleichen. Mit anderen Worten:
wir sind imstande, die in d iv id u e ll frühere Entwicklungsstufe |d. h. das Milchgebiss) mit der
geschichtlichen Forschungen. Es ist jedenfalls als gänzlich unstatthaft zu bezeichnen, irgend einen genealogischen
Versuch zu wagen, welcher gegen sicher beobachtete paläontologische Thatsachen verstösst oder diese ignoriert.
Dadurch, dass wir die Befunde der individuellen Variation unter die Kontrolle der Paläontologie stellen, dürften
die Bedenken wegfallen, welche man gegen die Verwendung der ersteren für die Genealogie angeführt hat (vergleiche
besonders SÜ|jtt 94).
1) Da hier und im Folgenden nur von den Zähnen der Dentition I I und I I I (vergleiche die Ausführungen
in dem ontogenetischen Teil 95) die Rede ist, so habe ich, um jeder Missdeutung vorzubeugen, die alten, wenn auch
weniger korrekten Benennungen Milch- und Ersatzzähne gewählt.
h is to r is c h früheren (fossile Formen) direkt zu vergleichen, ganz abgesehen davon, dass selbst
bei fossilen Tieren nicht selten das Milchgebiss der Untersuchung zugänglich ist. Wir haben
somit im Zahnsystem einen vorzüglichen Prüfstein für die Tragweite des biogenetischen Satzes.
Ferner besitzen wir zur Zeit wenigstens von den historisch ältesten, d. h. den mesozoischen
Säugetieren keine morphologisch brauchbareren Reste als das Gebiss. Schliesslich ist dasselbe
ganz besonders zum Studium der individuellen Variationen geeignet, da es äusserst plastisch
ist, gefügiger und vollständiger, als die meisten anderen Organe, auch dem leisesten Impuls von
aussen nachgiebt.
Fügen wir hierzu die äusseren, aber nicht zu ünterschätzenden Umstände, dass das
Gebiss leichter und in grösserer Menge anschaffbar, sowie rascher präparierbar als die übrigen
Organe ist, so kann nicht bestritten werden, dass das Gebiss den theoretisch und praktisch
bestmotivierten Ausgangspunkt für die genealogische Untersuchung der Säugetiere bildet. Erst in
zweiter Linie kann das Skelett Berücksichtigung finden; es eignet sich weniger zum Ausgangspunkt
der fraglichen Untersuchungen, teils weil die Paläontologie ein viel sparsameres Material
dafür liefert, teils weil seine Abstufungen von „Art“ zu „Art“ aus naheliegenden Ursachen meist
weniger scharf markiert sind.
Es versteht sich von selbst, dass unter Anwendung der im Obigen dargelegten geneälogi- Aufgabe der
sehen Arbeitsprinzipien der zweite Teil meiner Entwicklungsgeschichte des Zahnsystems üervorhegendea
Säugetiere sich zu etwas mehr gestalten muss, als einer blossen Darlegung der Phylogenese des SUCh u n g .
Zahnsystems. Der hier vorliegende Anfang dieses Teiles enthält somit auch nur die Bearbeitung
einer einzigen Tierfamilie, der Erinaceidae. Mehrere Gründe haben mich bestimmt, mit dieser
Gruppe den Anfang zu machen. Abgesehen von den rein äusseren Umständen, dass ich von
ihr ein verhältnismässig grosses Untersuchungsmaterial besass resp. mir verschaffen konnte %
sowie dass die ontogenetischen Grundlagen ihres Zahnsystems durchaus gesichert sind2), spricht
für diese Wahl, teils dass von dieser Familie reichlichere paläontolologische Reste als von den
anderen noch heute lebenden Insektivorenfamilien vorliegen, teils dass die Familie sehr verschiedene
Formen umfasst, teils endlich dass das Vorkommen vieler Arten in einer der hierher gehörigen
Gattungen das Studium der Artenbildung besonders begünstigt. Eine Tiergruppe mit sowohl ausgestorbenen
als lebenden Vertretern bietet bei stammesgeschichtlichen Untersuchungen augenscheinliche
Vorteile solchen Gruppen gegenüber, welche nur ausgestorbene oder nur lebende Formen
umschliessen, denn im ersten Falle fehlt uns der vollständige Einblick in die Gesamtorganisation,
welcher nur am recenten Material zu erlangen ist, und im letzten die Leitung und historische
Kontrolle der Paläontologie. Also auch von diesem Gesichtspunkte sind die E rin a c e id a e ein
günstiges Objekt für unsere Zwecke. Dass ich eine Familie aus der vergleichsweise indifferenten
Insektivorengruppe als Ausgangspunkt für diese Untersuchungen wählte, bedarf wohl keiner
besonderen Motivierung.
1) Allerdings ist die zu Gebote stehende Individuenzahl (siehe unten) für statistische Feststellungen durchaus
ungenügend; dagegen dürfte sie, wie aus der nachstehenden Darstellung ersichtlich, ein ziemlich vollständiges Bild von
den Formwandlungen, der Variationsbreite des Gebisses bei einigen Arten geben.
2) L e ch e (95, 97) und Woodward (96).