Stammesgeschichtliche Bedeutung des Milchgebisses.
Einige allgemeinere Fragen.
Die Erinaceidae gehören zu denjenigen Säugetieren, bei denen das Milchgebiss fungiert,
bis das Tier eine ansehnliche Körpergrösse, erreicht hat und somit auch in seiner Lebensweise
nicht erheblich vom völlig ausgewachsenen abweichen dürfte. Hierdurch erklärt sich denn auch
zur Genüge die allgemeine Übereinstimmung der Milch- und der entsprechenden Ersatzzähne
in dieser Familie. Aus eben diesem Umstande geht aber auch hervor, dass die etwaigen Unterschiede,
welche das Milchgebiss dem Ersatzgebiss gegenüber auszeichnen, von stammesgeschichtlichem
Standpunkte aus um so bedeutungsvoller sind, als sie schwerlich durch Anpassung
bei ihrem h e u tig e n Inhaber erworben sind.
Schon früher habe ich nachzuweisen versucht, dass das Milchgebiss der Säugetiere
einer historisch älteren Zahngeneration angehört, somit eine h is to ris c h frü h e re P h a s e in
d e r E n tw ick lu n g des Gebisses als da s E rs a tz g e b is s o ffe n b a rt1).
Dies ist auch jedenfalls richtig. Nur dürfen wir dabei nicht vergessen, dass das
Milchgebiss nicht der phylogenetischen Forschung zu Liebe ein totes, unveränderliches Dokument
bleibt, sondern sein eigenes Leben lebt, d. h. sich anpasst. Wir müssen es deshalb
als eine unserer wichtigsten Aufgaben betrachten, bei den einfachen Zahnformen zu entscheiden,
ob diese Einfachheit ursprünglich oder durch Rückbildung entstanden ist. Wie wir aus unserer
bisherigen Untersuchung bereits erkannt haben, reicht für die Beantwortung dieser Frage oft die
Musterung des einzelnen Zahnes nicht aus; die vergleichende Sichtung des g a n z e n Zahnsystems
musste in vielen Fällen den Ausschlag geben. Ferner haben wir uns überzeugt, dass
starke Rückbildungsprozesse in einigen Teilen des Gebisses gewirkt haben und z. T. noch wirken.
Die entsprechenden Milchzähne werden hierdurch so stark betroffen, dass es teils niemals zur Anlage
eines verkalkten Zahnes kommt, teils nur Zahnscherben, nie funktionierende Organe entstehen2).
Aber auch bei einigen funktionierenden Milchzähnen, wie Cd und Pd3 der E r in a ceini,
haben wir die Wirkungen der Rückbildung nachweisen können.
1) L e ch e (95) pag. 140. R ü t im e y e r (63) gebührt aber meines Wisséns das Verdienst, zuerst erkannt zu
haben, dass das Milchgebiss geologisch jüngerer Formen dem Zahnsystem älterer Formen näher steht als das Ersatzgebiss.
2) Solche Thatsachen haben Woodward (96 pag. 591) zu folgender Behauptung veranlasst: „the living Insectívora
are specialized forms tending towards a Monophyodont condition, in which the preponderating dentition is the
Der Vërliïst des P d 1 ist ein Mel« älteres'Ereignis als derjenige des I d 3 bei den Gym-
n u rin :|2 ü a ersterer nicht einmal embryonal auftritt, was . hei letzterem der Fall ist. Das
Fehlen des P d 1 ist, nach den (oft ungenauen) Angaben zu urteilen, überhaupt bei den Säugetieren
die allgemeinere,: :ünä das Vorkommen desselben die seltenere Erscheinung »SH
Wir haben ferner gesehen; dass sich das Milchgebiss bei den G ym n u rin i vollständiger
erhalten hat als-bei den E rin a c e in i, dass-also erstere auch in dieser Hinsicht ein ursprünglicheres
Verhalten darbieten.
Afe sicher von jedem Rückbildungspiéiitet vüschont haben wir folgende Elemente des
Milchgebiss^ kennen gelernt: I d (mit Ausnahme von Id 3 der jfjymnurinj^ P d 4 , P d 4 bei
allen, Säwie P d 3 bei Gvmnura.
Von a llg em e in e r B e d eu tu n g ist êf: nun, d a s s m e h re re de r letz te rw ä h n te n
Zähne_ein a lte rtüm lic h e r e s rs^p. u r s p r ü n g l i c h e r ^ G e p rä g e b ew a h rt haben,yäls
dië- e n tsp re c h e n d e n E f s a tz z ä h n jl Wir halsen hierfür teils historische, d. h. paiäontolo-
gische, teils vergleichend-anatomische Beweise. Unter Hinweis auf die in den vorhergehenden
Kapiteln angeführten Thatsachen heben wir hier folgende Befunde hervor:
IffiSBpdÿiund. P d 4 bei Gym n u ra ’Stimmentlpel besser als die entsprechenden Ersatz-
Zähne mit ijp ü n d H4 bei fte c ro g ym n u ru s überein (ÿërgïeiehe Fig 8, 12b, 149H
b) P4 der ausgestorbenen E rin a c e in i stimmt, soweit man diesen Zähn bisher kennt,
nicht mit P4, sondern mit P d4 der lebenden Erini||eüs-Arten- überein (vergleiche pag. 24).
c) P4 bei den ältesten (untermioeänen) Erinaceini,gSüwie bei dem mittelmiocänen
Ç a la e lle r in a c e u s i n t e r n e diu« trägt das Gepräge des P d 4, n ich t dasjenige, des P 4 der
fibenden Arten, wähnend erst beim mittelmiocänen Er. sansanienÉjjâ die Form des P4 der
modernen Erinftflçüs.-Arten auftritt (vergleiche, oben pag. 26}k .
Die am wenigsten ausgebildete Form des P d 4, welche, bei einer lebenden Erinaceus-
Art vorkommt (Er. jerdoni), stimmt vollkommen mit dem P4 des ollgociluer. Gymnurinen
T e tra c u s nan u s übeféin (Fig-75. 76).
• d) Wie oben (pag. 21-^23;/^). nachgewiesen, Ist der von .der Rückbildung angegriffene
obere dritte Prämolar der .E rin ac ein i mit am besten ausgebildet bei-Er. a u r itu s und albulus.
Bemerkenswert’ ist deshalb, dass P d 3 bei den: letztgenannten vollständig mit P3 bei N ecrog
ym n u ru s übereinstimmt!).
replacing or. permanent scL“ Dass der Ausspruch in dieser Fassung jedenfalls unbegründet ist, beweisen, wie ich früher
iCj~) nachgewiesen habe, die T u p a i id a e , M a c r o s c e l id id a e U ro t r ic h u s , C e n t e t id a e , S o le n o d o n und —
wie ich nach der Publikation jener Arbeit gefunden — auch P o tam o g a le , bei denen das Milchgebiss s te t s sehr gut
entwickelt ist und manchmal (Centetid ae) eine grössere physiologische Rolle spielt als bei der Mehrzahl der übrigen
Säuger,. Von einer Tendenz zum Monophyodontismus kann somit^||j|hnemHicht-die.Rede sein.
So fehlt P d I bei d c n C r c o d o n t a (ob bei allen?), C a r n iv o r a und der Mehrzahl der A r l io d a c t y la .
Nachgewiesen ist er bei M ac rau ch en ia , Dichodon, O reo d o n , S u s (manchmal), T ap iru s, Rh ino c éro s, H y r .ir ,
sowie (nachSchlosseroo') bei Paloploth erium und P a la e o th e r i.um . Unter einen allgemeinen Gesichtspunkt lässt
sich diese Unterdrückung des P d I kaum fassen. Jedenfalls kann in manchen Fällen an eine Unterdrückung des P d i
durch den stark ausgebildeten Eckzahn gedacht werden; in anderen Fallen ist wohl der Verlust des P d i mit der Entwertung
des P l in Zusammenhang zu bringen. Ob nicht historisch ältere Tierformen den P d I regelmässiger bewährt
haben.'bihibfnochzu1 untersuchen'.1 '
2) Dies steht offenbar in keinem Wide-.spruche’ mit unserer oben (pag. -yb) ausgesprochenen Auffassung, dass
die Übereinstimmung'zwisGÜbri dem am s tä r k s t e n .r e d u z ie r t e n Pd-,* (bei Er. jer.dbni) und P d 3 bei H y lom y s
eine Konvergenzerscheinung .fei.:::: '1: