
E. Experimenteller Teil.
I. Verhalten des Gehirns nach Entfernung der Sinnesorgane.
In der vorliegenden Untersuchung konnte wiederholt eine enge Beziehung zwischen
dem Bau der Sinnesorgane und demjenigen des Gehirns festgestellt werden. Am auffallendsten
tra t diese enge Beziehung hei den Pemphigini in Erscheinung, wo das Fehlen von
Fazettenaugen bei den ungeflügelten Generationen ein völliges Fehlen der entsprechenden
Ganglien zur Folge hat. Dies legt die Frage nahe, wie sieh der Bau des Gehirns; verändert,
wenn man die Augen ganz oder teilweise zerstört. Allgemein lautet die Frage: Wie verhält
sich das Gehirn nach Entfernung der von ihm innervierten Sinnesorganei
Zur Lösung dieser Frage wurden bereits mehrere Untersuchungen durchgeführt.
Alverdes (1924) untersuchte die histologischen Veränderungen des Gehirns von Clueon-,
von Agrionlaivon, sowie von N otonecta nach teilweiser oder totaler Blendung, und
TlTSCHACK (1928) verfolgte die Veränderungen des Deuterocerebrums von Cimex nach
Entfernung der Antennen. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen widersprechen sich sehr.
Alverdes kommt zu dem Resultat, daß in jedem Fall das I. optische Ganglion degeneriert.
Bei Aqrion beschränkt sich die Degeneration auf dieses Ganglion, während sie bei Cloeon
zum II. Ganglion fortschreitet. Bei Notonecta gar setzt sich der Verfall unaufhaltsam zentripetal
bis zu den zentralen Teilen des Gehirns fort, bis das Tier daran zugrunde geht.
Zu einem ändern Ergebnis kam Titschack bei der Fühleramputation von Cimex. E r
stellte lediglich eine Degeneration der sensiblen Nervenwurzel fest. Der Lobus olfactorius
wird aber dadurch keineswegs ganz zum Verschwinden gebracht. Der nach der Fühlerbeseitigung
zurückbleibende Rest des sensorischen Teils des Deuterocerebrums stellt nach Titschack
das Assoziations- und Weiterleitungszentrum dar. Der motorische Anteil bleibt
nach der Fühleramputation vollkommen erhalten.
Wie sind nun diese sich so sehr widersprechenden Ergebnisse von Alverdes und Tit schack
zu verstehen1? Überträgt man die Ergebnisse von Titschack auf die optischen
Ganglien, so ist zu erwarten, daß die von den zerstörten Fazettenaugen in das I. optische
Ganglion eintretenden Retinafasern einer Degeneration verfallen, während die der Assoziation
und Weiterleitung dienenden Teile des I. optischen Ganglions, sowie alle übrigen Teile
des Gehirns erhalten bleiben müssen. Ist das nicht der Fall, so erhebt sich die Frage, ob sich
vielleicht die einzelnen Gehirnteile (Protocerebrum einerseits, Deuterocerebrum andererseits)
so sehr verschieden verhalten, oder ob vielleicht die verschiedenen Versuchstiere an
dem gegensätzlichen Ergebnis schuld sind. Die zuletzt angeführte Vermutung hatte für
mich anfänglich am meisten Berechtigung, zumal ja Alverdes selbst bei seinen Tieren
große Unterschiede im Verhalten des Gehirns nach Blendung feststellen konnte. Eine Reihe
von Vorversuchen überzeugte mich aber bald davon, daß auch diese Annahme nicht berechtigt
ist. Der Grund für die Verschiedenartigkeit der Ergebnisse der beiden Autoren konnte
vielmehr nur in der verschiedenartigen operativen Technik liegen. Titschack entfernte die
Fühler von Cimex durch Abschneiden, während Alverdes die Blendung m it einer glühenden
Nadel ausführte. Alverdes gibt zu, daß eine genaue Dosierung der Hitze nicht möglich
ist. Schon diese Tatsache dürfte genügen, eine gewisse Variabilität des Verhaltens,
welche Alverdes festgestellt hat, zu erklären; einen verschiedenen physiologischen Zustand
der Tiere anzunehmen, erübrigt sich m. E. vollkommen. Weiterhin aber wissen wir nicht,
ob jener Hitzegrad, welcher nötig ist, bei dem einen Versuchsobjekt lediglich das Auge zu
zerstören, bei einer ändern Tierart nicht bereits eine tiefgreifende Schädigung des Nervensystems
verursacht. Alverdes schreibt zwar: „Die von mir untersuchten Präparate sprechen
übrigens sämtlich dafür, daß die Hitze über das zu behandelnde Auge nicht hinausgriff,
daß also die am Zentralnervensystem nach Blendung beobachteten Veränderungen
nicht direkt von der Hitze selbst, sondern nur indirekt, und zwar durch das Absterben des
betreffenden Auges, bewirkt wurden.“ Dazu ist zu bemerken, daß eine solche Feststellung
an Hand von Präparaten ganz unmöglich ist. Wir können an Präparaten zwar feststellen,
ob die Hitze das Eiweiß zum Gerinnen gebracht hat, oder ob einzelne Teile gar angesengt
sind, nicht aber, ob durch die Hitze an so feinstrukturierten und empfindlichen Gebilden,
wie sie die optischen Ganglien darstellen, überhaupt keine direkten Schädigungen verursacht
wurden. Eine andere Frage ist dann immer noch, welcher Art die i n d i r e k t e n
Schädigungen sind. Denkbar wäre z. B., daß durch das Versengen der Augen Stoffe entstehen,
welche irgendwelche Giftwirkungen auslösen. Soviel steht jedenfalls fest, daß die
Behauptung von Alverdes, wonach die am Zentralnervensystem nach Blendung beobachteten
Veränderungen durch das Absterben des betreffenden Auges bewirkt wurden, durch
nichts zu beweisen ist. Die von ihm angewandte Methode ist folglich zur Lösung der Frage,
ob die Entfernung von Sinnesorganen histologische Veränderungen im Gehirn bedingt,
völlig ungeeignet.
Ich verwandte daher für meine Versuche, von einigen Vorversuchen abgesehen, bei welchen
ich ähnliche Ergebnisse wie Alverdes erhielt, zur Entfernung der Augen stets ein fein
geschliffenes Starmesser. Bei der Operation ist darauf zu achten, daß mit dem Messer keinerlei
Zugwirkung auf die optischen Ganglien ausgeübt wird, zumal man sonst ähnliche Degenerationen
feststellen kann wie bei Blendung durch Hitze. Die Operation wurde in leichter
Äthernarkose ausgeführt, um die Tiere zu hindern, zu viel Körperflüssigkeit durch die
Wunde auszupressen. Die Wunde muß vor Infektion gut geschützt werden; schädigend
wirkt sich vor allem Schimmelbildung aus, welche an feuchtwarmen Sommer tagen sehr
leicht auftritt.
Als Versuchstiere verwandte ich vor allem Nymphen und Imagines von Pentatoma
prasina. Die Tiere wurden mit Himbeeren und später, bis in den Spätherbst hinein, mit
Brombeeren gefüttert. Die Überwinterung erfolgte in einem Terrarium, welches in einem
ungeheizten, im Freien stehenden Glashaus untergebracht war. Die Sterblichkeit betrug bei
Entfernung der Augen 30—40%. Die meisten davon gingen gleich in den ersten Tagen nach
der Operation augenscheinlich an zu großem Blutverlust zugrunde.
Außer an Pentatoma wurden Versuche angestellt an Velia und Gerris. Diese Tiere
eignen sich besonders gut deshalb, weil ihre Augen gegen die Kopfhöhle durch eine mehrfache
Membrana fenestrata abgegrenzt wird. Bei einiger Übung gelingt es, das Auge zu
entfernen, ohne diese Membran zu zerstören. Stets wurde nur ein Auge entfernt, das andere