Verschmelzungen und Reduktionen den idealistischen Bauplan einer pentadaktylen Extremität
akzidentiell variieren. In unserem Falle scheint die Beherrschung der Mediumströme
ein solcher Grundstock von essentieller Bedeutung zu sein, der durch Differenzierungsakte
immer kunstvoller ausgebaut werden kann.
Auf menschliche Verhältnisse übertragen, können wir uns das Gesagte an folgendem
Beispiel veranschaulichen. Vom Standpunkte einer Typologie aus gewährleisten die Eishütte
des Eskimos, die Kate des Heidebauern, die Wohnung des bürgerlichen Städters und
der Palast des Fürsten prinzipiell das Gleiche. Sie alle dienen als „Heim“ und sind in ihrer
Art vollendet, nur der Grad der Differenzierung ist verschieden. Es ist nicht schwer, gewisse
essentielle Faktoren herauszuschälen, welche allen den genannten menschlichen
Behausungen eigen sind. In jedem neu auf tretenden Falle wäre es unsere erste Aufgabe,
nach ihnen zu suchen, genau so wie wir im Bauplan eines neu entdeckten Tieres zunächst
nach Sinnesorganen, Leitungsbahnen, Blutwegen usw. fahnden werden, um es systematisch
einzureihen.
D ie t y p o l o g i s i e r e n d e M e t h o d e mu ß a l s o z u n ä c h s t z u r K l a s s i f i k a t
i o n a u f Gr u n d von F u n k t i o n s p l ä n e n , d a r ü b e r h i n a u s a b e r z u r E n t d
e c k u n g wi c h t i g e r K o r r e l a t i o n s g e s e t z e f ü h r e n .
Im Hinblick auf die B ew ä l t i g u n g d e r B e u t e sind unsere aasfressenden
Schnecken K r a t z e r im Sinne von J ordan und Hirsch (1927). Sie führen die Nahrung
in einzelnen Stücken dem Darmkanal zu, falls sie nicht so weich ist, daß sie sich ihm
als Ganzes einfügt. Beim Losreißen dient der Fuß als Halteorgan. Der Nahrungsballen
gleitet dann rasch durch den Vorderdarm, der sehr wenig differenziert ist, bis in den
Magen. Ein Vorverdauungsraum wie bei den Schlingern fehlt. Die Gänge der Mitteldarmdrüsen
nehmen die im Magen zersplitterte Nahrung auf, um sie hier weiter zu zerlegen.
Erst die einfachsten; Eiweißbausteine passieren die Wandung der Mitteldarmdrüsenzellen,
denn nach unseren Feststellungen besteht kein zwingender Grund, der Phagocytose —
auch nicht im Sinne SCHLOTTKES (1934) — eine besondere Bedeutung für die Nahrungsbewältigung
einzuräumen, ist doch bereits der Magensaft in der Lage, alle untersuchten
Substrate bis zu den einfachsten Bausteinen abzutragen.
Auch in der Art der Nahrungsverarbeitung stehen die aasfressenden decapoden
Crustaceen unserer aasfressenden Schnecke nahe. Auch sie sind Kratzer, für welche die
oben gemachten Ausführungen gelten. Augenscheinlich ist das Verdauungsfeld der
Schnecken insofern differenzierter, als im Anfangsteil des Darmkanals verschiedene Drüsen
zu finden sind, welche den genannten Krebsen fehlen. Dafür ist aber die mechanische
Verarbeitung des Nahrungsballens bei den Krebsen außerordentlich viel intensiver.
F u n k t i o n s p l a n t y p o l o g i s c h i s t B w c iw wm u n d a t u m L. e in a a s f r e s s e n d
e r K r a t z e r . Diese Kennzeichnung ist ihrem Wesen nach nicht lediglich deskriptiver
Natur, sondern der Ausdruck einer P l a n g e s e t z l i c h k e i t , deren vollen Umfang zu
ermessen künftiger Forschung Vorbehalten bleiben muß.
V. Zusammenfassung der Ergebnisse.
1. Die Aufgabe dieser Arbeit ist es, die planmäßig ineinandergreifenden Funktionen,
welche zum Aufbau des Beute- und Verdauungsfeldes von Buccinum undatum L.
führen, zu analysieren und sie mit den Ergebnissen, die besonders für decapode Crustaceen
vorliegen, im Sinne einer Funktionsplantypologie zu ordnen (S. 2, Kap. II, 1 D und
Kap. IV).
2. Die in kalten und gemäßigten Zonen weitverbreitete Wellhornschnecke kommt von
1000 m Meerestiefe bis zur Niedrigwasserlinie auf hartem glatten und auf rauhem Felsboden,
aber auch auf weichem Grunde vor. Sie friß t nicht zu altes Aas und öffnet bisweilen
auch lebende Muscheln (S. 4—10).
3. Ih r Beutefeld baut sich in einem Tastraume (Tangospatium) auf und enthält
Substrat- und Mediummerkmale chemischer, rheochemischer und taktiler Art. Optische
Merkmale spielen bei der Beutesuche keine Rolle (S. 23). Als chemischer Fernrezeptor dient
das Osphradium, welches durch den Sipho dauernd Wasserproben zugestrudelt bekommt.
Das Pallialrohr wird ankommenden Wasser strömen entgegengehalten, wie die 1. Antennen
bei decapoden Crustaceen. Es wird somit zum typischen Mediumorgan (S. 20—21). Die
Schnecke ist aber nicht in der Lage, Wasserströme aus allen Richtungen des Raumes
von fern her auf ihre Chemorezeptoren zu leiten, wie es die genannten Krebse tun
(S. 18—22). Die Tiefenwirkung des Pallialstromes beträgt nur etwa V2 cm (S. 19).
4. Als Substratorgane dienen die Rezeptoren am vorderen Fußteil, die Tentakeln und
der Rüssel (S. 24 u. 35). Die Rüsselspitze ist zur Nahrungswahl befähigt (S. 38 u. 43). Ein
Tier reagierte durchschnittlich nach 20 Minuten auf ein etwa 20 cm entfernt liegendes
Beutestück (S. 13).
5. Das Verhalten der Schnecke während der Beutesuche ist nicht als Summation
einzelner von außen her ausgelöster zwangsmäßig aufeinanderfolgender Akte zu verstehen,
sondern als ein planvolles Zusammenspiel verschiedener Funktionen eines in den
Beutekreis eingeklinkten Tiersubjektes, für welches bestimmte Marken der Umgebung
zu Bedeutungsträgern werden, indem sie die Beutetönung annehmen. Die Taxienlehre
wird dieser Tatsache deswegen nicht gerecht, weil sie das Tier als Objekt betrachtet,
welches durch physikalisch-chemische Faktoren von stets gleicher Wertigkeit gesteuert
wird. Die Abgrenzung der vorgetragenen biologischen Einstellung gegen die Gestalttheorie
wird erörtert (S. 25—31 und Kap. IV).
6. Das Aus- und Einstülpen des Rüssels, die Tätigkeit der Radula sowie der Verlauf
des Darmkanals und seiner Anhangsdrüsen und deren Histologie werden beschrieben,
soweit es für das Verständnis der verdauungsphysiologischen Vorgänge nötig ist (S. 38—55).
Außerdem werden Angaben über Durchschnittsgrößen und Gewichte der Tiere, sowie der
Organe des Verdauungskanals gemacht (S. 55).