
In Übereinstimmung mit den oben gekennzeichneten Forschungsrichtungen besteht
nach meiner Ansicht die Aufgabe des Biologen in erster Linie in der Aufstellung von
Funktionsplänen des Beute- und Verdauungsfeldes einzelner Organismen. Ehe wir an
chemische Spekulationen und Aufschlüsse herangehen, wollen wir uns über die Art der
Nahrung, über den Grad ihrer Zerkleinerung bei der Aufnahme, über die mechanischen
Einwirkungen während des Transportes, über die Verweildauer in den einzelnen Erweiterungen
des Darmes, über den Grad der Ausnutzung usw. orientieren. Erst damit schaffen
wir eine Plattform, von der aus wir die Wirkungen im Reagensglase beurteilen können.
Gern hätte ich die Untersuchungen am Einsiedlerkrebs Eupagurus, dessen Beutefeld
ich gut kannte, durchgeführt. Hier dürften aber die Verhältnisse im P r i n z i p nicht viel
anders liegen als bei Astacus, dessen Verdauungsfeld ziemlich genau analysiert ist
[Krüger und Graetz (1927, 1928); Hirsch und J acobs (1928); J acobs (1928); Shinoda
(1928); Wiersma und VAN DER Veen (1928); ferner auch Yonge (1923/24); Bek-Mansour
(1932); Vonk (1935a u. b)]. Daher folgte ich gern einem Vorschläge des Herrn Prof. J ordan,
dem ich auch an dieser Stelle herzlich dafür danken möchte, und wählte die fleischfressende
Schnecke Buccinum undatum L. Bei diesem Tier ist besonders die Eiweißverdauung
von großem Interesse, denn seit Jahrzehnten bemüht man sich vergebens um
die restlose Aufhellung der Vorgänge bei der Aufspaltung hochmolekularer Eiweißbausteine
durch pflanzenfressende Pulmonaten, besonders durch Helix [Biedermann (1911);
Graetz (1929 a u. b); Rosen (1932 u. 1934)].
Da Eupagurus und Buccinum hinsichtlich der Struktur ihrer Beutefelder große Ähnlichkeiten
aufweisen, werde ich den Krebs weitgehend zum Vergleich heranziehen, um
damit die Möglichkeit und Berechtigung einer F u n k t i o n s p l a n t y p o l o g i e nachzuweisen.
2. Vorkommen.
Zur Analyse des B e u t e - und V e r d a u u n g s f e l d e s eines Tieres in der Gefangenschaft
ist die Kenntnis seiner natürlichen Umgebung unerläßlich, denn diese stellt das
Reservoir dar, aus welchem das Tiersubjekt normalerweise die Reize empfängt, die zum
Aufbau seiner Umw e l t dienen. Dieses Reizreservoir wird durch die Gefangenschaft
notwendigerweise verändert, und über den Grad dieser Veränderung sollte man sich
immer so weit als möglich Rechenschaft ablegen. Leider wissen wir noch sehr wenig über
die physikalischen und chemischen Faktoren, denen ein Tier auf dem Meeresgründe ausgesetzt
ist, und können nur ahnen, wie diese Faktoren zu Reizen zusammengefügt werden
oder in den Stoffwechsel Vorgängen wirksam sind.
Buccinum undatum L. ist weit verbreitet, und daher könnte man vermuten, daß die
Tiere den Änderungen der Umgebung weitgehend Rechnung tragen können. Es wird sich
aber noch zeigen, daß dies keineswegs der Fall ist.
Die h o r i z o n t a l e V e r b r e i t u n g schildert H avinga (1922) mit folgenden Worten:
„Die Schnecke wird von der asiatischen Küste des nördlichen Eismeeres von Ochotsk
ab westlich bis zum Nordkap, Island, Grönland und an der amerikanischen Ostküste bis
Boston gefunden. Auch an den atlantischen Küsten Europas kommt sie allgemein vor; im
Mittelmeer bis zur Ostküste Siziliens.“ Nach Dakin (1912) ist sie auch in der Antarktis
anzutreffen (S. 99). In der westlichen Ostsee fängt man sie als dünnschalige Lokalform.
Sie lebt vorzugsweise in Küstennähe und v e rträgt eine geringe Beimischung von Süßwasser,
wobei aber das spez. Gewicht nicht unter 1,020 sinken darf [Havinga (1922, S. 139)].
Die v e r t i k a l e V e r b r e i t u n g reicht nach Havinga (1922) von 1000 m Tiefe bis
unterhalb der Niedrig Wasserlinie. Gowanloci-i (1928) hat festgestellt, daß die Schnecken
an nordamerikanischen Küstenstrichen nach schweren Stürmen bisweilen trockengelegt
werden. Sie finden sich dann nicht wieder in das Wasser zurück, verlieren viel Flüssigkeit
und gehen daran zugrunde. Wir werden später auf diese Feststellung zurückkommen.
Über die B e s c h a f f e n h e i t de s U n t e r g r u n d e s , auf dem sich Buccinum aufhält,
liegen verschiedene Angaben vor. Nach Havinga (1922) leben die Tiere auf festem
hartem Boden wie die Austern, nach Dakin (1912) bewohnen sie jedoch „different kinds
of ground“.
Besonders genaue Feststellungen über diesen Punkt hat Heincke (1894) gemacht.
Da sich dieselben auf die helgoländer Fanggründe, denen meine Versuchstiere zum größten
Teile entstammten, beziehen, so sollen sie hier wiedergegeben werden. Nach H eincke
(S. 133) ist Buccinum „gemein auf fast allen Gründen jenseits der Tidenregion“, namentlich
auf sandig-schlickigem Boden und an rein schlickigen Stellen, so auf dem „Plimp-
grunde“ (schlickiger Sand mit leeren Muschelschalen, besonders solchen von Austern, an
denen fast immer Röhren von Sabellaria alveolata (helg. P ümp) sitzen), der „Tiefen
Rinne“ und in der Nähe der „Austernbank“, deren Grund aus Sand, Sand-Schlick und
reinem Schlick besteht; ihre Tiefe beträgt etwa 25 m.
Diese Angaben stimmen völlig mit denen von JO U B IN (1911) überein, der Buccinum
an der nordfranzösischen Küste studierte und seine Beobachtungen in die Worte
faßt (S. 12): „. . .on le trouve dispersé sur les roches basses ou plages vaseuses.“
Auf weichem Boden gräbt sich Buccinum mit dem Fuße ein, wie man im Aquarium
beobachten kann und wie schon von Leunis (1883) festgestellt wurde. Ich konnte aber
niemals sehen, daß auch das Gehäuse mit in den Sand gezogen wurde, wie das bei Nassa,
die sonst mancherlei Ähnlichkeit mit Buccinum aufweist, geschieht. Nassa hat einen verhältnismäßig
viel längeren Sipho als Buccinum, der nach dem Eingraben als einziger
Körperteil aus dem Sande herausschaut. Vielleicht darf man schon aus diesem Unterschied
in der Länge der Atemröhre auf einen solchen im Verhalten der Tiere schließen.
Bei der Besprechung der S i p h o n a l r e a k t i o n werden wir auf diese Tatsache zurückkommen.
Zusammenfassend ist also zu sagen, daß Buccinum s owoh l a u f h a r t em g l a t t
em Fel s , wi e a u c h a u f r a u h em Gr u n d e u n d a u f w e i c h e m B o d e n v o r komm
t.
Meine helgoländer Versuchstiere entstammten in der Hauptsache der „Tiefen Rinne“,
sie wurden also aus einer Tiefe von 36—45 m heraufgeholt. Ein anderer Teil wurde den
Hummerkörben der helgoländer Fischer entnommen, die ihre Fanggeräte in eine Tiefe
von 24—30 m auf die Felsgründe hinabsenken.
Nach Angaben von Wulff (1927) dürfte in diesen Tiefen eine mittlere T em p e r a t
u r von etwa 9° C herrschen. Nach meinen Erfahrungen halten sich die Tiere besonders
nach Transporten, im kalten Wasser besser als im warmen. Nach Möglichkeit kühlte ich
daher die Aquarien von außen mit Eis und sorgte immer für reichliche Durchlüftung.
Trotz aller dieser Vorsichtsmaßnahmen halten sich die Schnecken nicht gut. Sie verlieren
meist Flüssigkeit, wie die oben in der Arbeit von Gowanloch erwähnten Tiere,