
Der interessanteste und achtungswertheste von allen
Menschen , die ich zu Gondar kennen lernte, war Lik
Atkum; denn er war nicht allein für einen Abyssinier ein
Mann von grösser Bildung, sondern hatte auch wahren
religiösen Glauben und eine durchaus rechtliche Gesinnung,
und erweckte in mir eine um so grössere Liebe
und Achtung, als ein solcher Charakter mit dem aller
ändern Einwohner den grellsten Contrast bildete. Seine
Wohnung, eine der grössten von Gondar und im Quartier
Gaingbed gelegen, war ein geräumiges conisches Haus,
welches von einem schönen Garten umgeben ist. In diesem
Garten merkwürdige Pflanzen des Landes, namentlich
solche, denen man Heilkraft zuschrieb, zu cultiviren,
war eine besondere Liebhaberei desselben; und hier prangten
daher der Enserta- und Cusso-Baum, der Weinstock,
die Granate und der Kaffestrauch. Am einen Ende des
Gartens lag im Schatten schöner Gebüsche eine kleine
Hütte, von welcher aus man die Thalfläche nach Koskam
zu übersieht, ln diese pflegte er sich zurückzuziehen,
wenn er sich ungestört mit seinen Freunden unterhalten
w ollte, oder sich mit dem Lesen der heiligen Schrift
oder einer Landeschronik zu beschäftigen wünschte;
denn in seinem Wohnhause selbst ward er einen grossen
zehnjährigen, ganz verwachsenen Knaben, in Anspruch zu nehmen,
der in Folge seiner körperlichen Missbildung ganz abgezehrt und entkräftet
war. Man hatte die betrübten Aeltern versichert, das einzige
Mittel, das Leben dieses Kindes zu erhalten, bestehe darin, dass man
es täglich in einem für heilig gehaltenen Brunnen einer gewissen Kirche
bei Gondar bade. Die Priester dieser Kirche verlangten aber für die
Erlaubniss, dieses vermeintliche Heilwasser zu benutzen, nicht allein
die Bezahlung einer für die Leute unerschwinglichen Summe, sondern
machten auch zur Bedingung, dass das Kind zum christlichen Glauben
übertrete.
Theil des Tages hindurch durch Besuche beschäftigt,
hauptsächlich um als Schiedsrichter die Streitigkeiten friedlich
zu schlichten: dieses ist fast die einzige Art von
Justiz, welche jetzt in Gondar sich findet. In der Abgeschiedenheit
jener Hütte ergoss er sich oft gegen mich
mit betrübtem Herzen in Klagen über den unglücklichen
politischen und moralischen Zustand seines Vaterlandes;
er erzählte mir dann mit tiefem Schmerze, wie durch die
Schlechtigkeit des Volkes es nach und nach den gemeinschaftlichen
Feinden des Landes und der Kirche, den
Galla’s, gelungen sey, in Abyssinien einzudringen und das
Land sich fast ganz zu unterwerfen, und wie jetzt die
einst so hochgeachtete Kaiserfamilie, nach dem Glauben
der Abyssinier von Salomo entsprossen, in Schmach und
Armuth ein bloss vegetirendes Leben habe. „Warum kommen
denn nicht noch einmal, fügte er hinzu, die Europäer
uns zu Hülfe, wie sie vor drei hundert Jahren thaten?
namentlich die Engländer, die doch so viel Geld ausgeben,
um uns mit Bibeln und ähnlichen Schriften zu versorgen?”
Ich erwiederte ihm auf diese Klagen hauptsächlich,
dass materielle Hülfe, ohne radicale innere Regeneration
bei Völkern ganz nutzlos wäre, und auch gewiss
von keiner Seite her erwartet werden könne. Freilich
werde — und er stimmte mir darin auf das Entschiedenste
bei — eine solche Regeneration schwerlich durch ein
blosses Austheilen von Bibeln erlangt werden. Meiner
Ansicht nach würde man dieselbe weit sicherer herbeiführen,
wenn man eine unparteiisch und in einfacher,
verständiger Weise geschriebene Geschichte Abyssiniens
in der Landessprache druckte und in zahlreichen Exem-
plaremunter den Eingebornen verbreitete. Indem dadurch
Jedermann unwillkürlich zu einem Vergleich zwischen der