
Dofter Gabriel, mein Hausherr zu Kiratza, verschaffte
mir die persönliche Bekanntschaft Abba Engeta’s, des obersten
Geistlichen der Kirche Oeledat, durch dessen Gefälligkeit
ich endlich den grossen historischen Codex des
Djeaz Hailu wenigstens zu sehen bekam. Ich erkannte alsbald
die grosse Wichtigkeit dieser Handschrift, namentlich
wegen ihrer Mittheilungen über die neuere abyssinische
Geschichte; denn in Bezug auf diese muss sie als die einzige
authentische Quelle angesehen werden, da meines
Wissens kein anderes ähnliches Werk, oder überhaupt auch
nur eine Aufzeichnung der Begebenheiten in Abyssinien
seit dem Tode des Kaisers Teqela Haimanot vorhanden
ist *). Da es nicht möglich war, dieses Manuscript zu erkaufen,
so glaubte ich zur Bestechung meine Zuflucht nehmen
zu dürfen, um die Erlaubniss zu erhalten, mir von
dem wichtigsten Theil dieser abyssinischen Geschichte heimlich
eine Abschrift nehmen zu lassen. Natürlich gab ich
hierbei zuerst dem Abschnitte seit Anbeginn der Regierung
jenes Kaisers Teqela Haimanot, der im Jahr 1769,
kurze Zeit vor der Ankunft von Bruce, den Thron be-
stieg, den Vorzug. Nachdem im Verlauf von zehn Tagen
diese nicht weniger als einhundert ein und fünfzig enggeschriebene
Folio-Seiten einnehmende Abschrift gefertigt
war, liess ich gleich weiter die Geschichte seit dem Regierungs
Antritt des Kaisers Ameda Zijon, d. i. seit dem
Jahre 1813 (6806 abyss. Zeitrechnung) copiren. Die Erzählung
der in die Periode vom Ende des dreizehnten Jahr-
*) Ausgenommen die biographischen Mittheilungen,, welche Ras Oeled
Selasse von sich selbst niederschreiben liess und dem Herrn Salt schenkte.
So viel ich weiss, ist dieses abyssinische Manuscript, das sich irgendwo
in England vorfinden muss, nie für historische Forschungen benutzt
worden.
hunderts bis zur Hälfte des achtzehnten fallenden Begebenheiten,
welche dreihundert sechs und siebenzig gleichfalls
enggeschriebene Folio-Seiten füllt, ward mir theils
während meiner Anwesenheit in Kiratza abgeschrieben,
theils nachher besorgt und nach Gondar geliefert. Da durch
eine Feuersbrunst, oder durch die in Abyssinien so häufig
vorkommenden Verheerungen des Kriegs der Original-
Codex dieses historischen Werks leicht zu Grunde gehen
kann, so gereicht es mir zum besondern Vergnügen, die
für mich gefertigte Abschrift glücklich nach Europa gebracht
zu haben, wo sie nun hoffentlich vor Untergang
gesichert und zum bleibenden Nutzen der abyssinischen
Geschichtsschreibung erhalten werden wird *).
Während meines ziemlich langen Aufenthalts in Kiratza
liess ich noch eine andere Landes-Chronik für mich
abschreiben, deren Original-Codex gleichfalls nicht käuflich
war, und die ein Eigenthum der dortigen Kirche Gadas
Michael ist. Die Geschichtserzählung- derselben geht nur
bis zum Jahr 1697 hinauf, und ist "sehr unzusammenhängend
gegeben; aber dieses kleine Werk hat dessenungeachtet
ein eigenthümliches Interesse wegen einiger in ihm
aufgezeichneten genauen Daten. Ein anderes, sehr sauber
auf Pergament geschriebenes Buch, welches ich dort erkaufte,
führt den Titel: El Falasfa, und enthält Anleitungen
zur Heilkunde, die mitunter in höchst lächerlichen
Vorschriften von meist sympathetischer und mystischer Art
bestehen. Dieses Tractätchen, in welchem auch von den
grossen Philosophen Sokrates, Plato und Aristoteles die
Rede ist, scheint nicht den geringsten wissenschaftlichen
*) Dieses Werk befindet sich in der Sammlung abyssinisclier Ma-
nuscripte, welche ich der Frankfurter Stadtbibliothek geschenkt habe.