
Abyssiniens Bewohner scheinen in der vorchristlichen
Zeitperiode auf einer sehr niedern Stufe der Cultur gestanden
zu haben. IMit den von Egypten her civilisirten
Stämmen, welche in Aethiopien den Nilstrom entlang
wohnten, und das Reich Meroe gegründet hatten, scheinen
sie durchaus keinen Verkehr gehabt zu haben *), sondern
die Colonieen von Syrern, die Alexander der Grosse, dem
Zeugniss des Philostorgus gemäss, an die abyssinische
Küste verpflanzte **), haben vermuthlich zugleich mit der
jüdischen Religion die ersten Keime einer Bildung ihnen
überbracht. Von diesen jüdischen Einwanderern , welche
den einheimischen Bewohnern des Landes sicher in hohem
Grade geistig überlegen waren, und bei den Letzteren
ihre Religion einführten, rührt die sonderbare, aber in
ganz Abyssinien als eine unumstössliche Wahrheit angesehene
Sage her, dass Menilek, ein angeblicher Sohn des
israelitischen Königs Salomo und einer Königin von Saba,
im eilften Jahrhundert vor Christi Geburt nach Abyssinien
gekommen sey, und dass von ihm die seitdem bis auf
die neueste Zeit regierenden Kaiser-Familien abstammen.
Die Religionsbegriffe der historisch ältesten Bewohner
des Landes sind ganz unbekannt. Dass durch den Verkehr
*) Ich bedauere ungemein, auf. das Entschiedenste mich g e g e n
die Ansicht erklären zu müssen, welche der Rev. Michael Russell in
seinem Werke, Nubia and Abyssinia (Edinburgh 1833) Seite 184, ausspricht:
„That the land of the Pharaohs was indebted to Ethiopia
(Abyssinien) for the rudiments, and perhaps even for the finished patterns
of architectural skill, is no longer questioned by any writer, whose
studies have qualified him to form a judgment.”
**) Philostorgus pag. 479: „Ante hos autem Auxumitas, Orientem
versus, ad extimum pertingentes Oceanum, accolant Syri, ab earum
quoque regionum incolis ita dicti. Etenim Alexander Macedo eos ex
Syria abductos illic collocavit.”*
mit den Griechen, die sich während der Herrschaft der
Ptolemäer, namentlich wegen der Elephantenjagd, an Abyssiniens
Küste niedergelassen hatten, ein Pantheismus in
dem axumitischen Reiche eingefuhrt ward, und die vermuthlich
sehr entstellte mosaische Religion theilweise verdrängte,
ist durch den Inhalt der von Salt bekannt gemachten
griechischen Inschrift von Axum keineswegs
unwiderruflich zu beweisen. Denn der Namen des unbesiegbaren
A r e o s , welcher in dieser Inschrift vorkommt,
könnte sich wohl auch auf Jehova beziehen, und, der wahren
Absicht des Verfassers der Worte nach eine Eigenschaft
dieses bezeichnend, von dem griechischen Ueber-
setzer willkührlich durch den Götternamen Areus ausgedrückt
worden seyn. Jedenfalls bleibt es höchst merkwürdig,
dass sich in ganz Abyssinien keine Spur der egyptischen
Religionsmythen vorfindet, während diese doch im ganzen
Reich Meroe verbreitet waren. Denn da in Abyssinien
noch nirgends sonst eine Abbildung von egyptischen Götzen
entdeckt worden ist, so kann man es wohl für wahrscheinlich
halten, dass der kleine, mit Hieroglyphen versehene
Stein, von welchem Bruce auf Taf. 10 und 11 eine Abbildung
gibt, und den er vom Kaiser Teqela Haimanot, angeblich
als in Axum gefunden, erhalten hatte, durch irgend
einen zufälligen Umstand aus Egypten dahin gekommen
ist. Steine von ganz gleicher Form und Verzierung finden
sich ziemlich häufig in den Ruinen von Egypten.
Keiner der alterthümiichen Ueberreste, die sich in Abyssinien
finden, liefert einen directen Beweis, dass daselbst
dem Pantheismus jemals Denkmäler errichtet wurden. So
sind zum Beispiel die mit Sculpturen verzierten Obelisken
von Axum sicherlich in einer Zeitperiode aufgestellt worden
, wo bereits das Christenthum in diesem Lande ein