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wurde, so fuhren wir abwärts steigend, grade in die Hauptstrafse von Tiflis
ein, in den sogenannten Boulevard.
Die russische Sprache, mehr als die deutsche, hat eine sehr stark ausgesprochene
Neigung, ausländische Bezeichnungen in sich äufzunehmen.
Den Boulevard haben nicht etwa die französischen Ansiedler und Glücksritter
ausgeheckt, mit denen Tiflis — man lese nur die Laden- und Thürschilder!
— überschwemmt ist, sondern die russische Polyglotte. Selbst in
den kleinen russischen Provinzialstädten finden sich die Boulevards wieder,
neben den unvermeidlichen Gartenanlagen, mit denen als Vergnügungsort
jede russische Stadt versehen ist und die den englischen Namen Vauxhall
oder, wie die Bussen aus Mangel des Buchstaben h das Wort aussprechen
Vauxgall führen. Um ein drittes Beispiel aufzuzählen, erwähne ich noch
das déutsch-russische Postgausdomu,' wie ich es selber gelesen habe, aus
dem deutschen Posthaus und dem russischen domu „Haus“ zusammengesetzt.
Wir fuhren also in die gröfste und schönste Strafse von Tiflis ein, in
den Boulevard.
Welch’ ein ekelhafter, widriger Anblick! Konstantinopel mit allem
Schmutz schien mir ein mit Sand bestreuter Parqiietboden zu sein.
Die ganze Strafse war ein ellentiefer, wässriger Koth. Den Pferden und
dem Rindvieh ging der Schlamm bis über den Bauch weg; die Leute in
den niedrigen Droschken mufsten die Beine' hochheben, um sieh vor dem
Andrang der alles bespritzenden Masse zu schützen, über den Damm vermochte
Niemand bei Lebensgefahr hinwegzukömmen. Gern will ich nun
glauben, was Alexander Dumas in seinem „ Caucase “ den Baron Finot
sagen läfst: — il est tombée une 'légère ondée; elle: suffit pour qu’on ait
de la boue jusqu.à la cheville; si elle continue, on en aura demain jusqu’au
genou; si elle persiste, on en aura après demain jusqu’à la ceinture. Vous
ne savez pas ce que c'est que la boue de Tiflis, chef ami ; mais avant de
quitter la capitale de la Géorgie vous le saurez: il y a des moments où
le rez-de-chaussée de votre drosky ne suffit plus-, et où vous êtes obligé
de. monter sur la banquette comme Automédon. Alors ou vous jette une
planche de la maison où vous allez, et vous faites vos visites en passant
sur un pont suspendu.
Dumas und sein Gewährsmann haben beide sicher nicht gelogen.
Wir befanden uns an der tiefsten Stelle des Kothes. DeT Wagen hielt
still, der Jemtschik drehte sich nach uns um.
Tiflis. 75
„Wo befehlen Ew. Excellenz abzusteigen?“
Hôtel du Caucase, wurde ihm zugerufen. E r schüttelte bedenklich den
Kopf und drehte sich noch einmal um.
'Gostinitza Kawkas! wurde ihm auf russisch verdollmetscht.
Er fragte einen vorbeifahrenden Droschkenkutscher nach dem bezeich-
n e ten -Hôtel. Dieser wies ihm die einzuschlagende Richtung.
Harascho! Pascholl matuschka ! rief er, und wir wurden langsam durch
den nassen Urstoff des schönsten Schöpfungswerkes nach dem Hôtel du
Caucase geschleift.
Wenn man sich eine Zeitlang in den russischen Posthäusern zwischen
Maran und Tiflis herumgedrückt hat, so macht die Erscheinung eines einförmigen
Gebäudes mit breitem Thorweg und einer ersten Etage mit Holz-
balkön den Eindruck eines Palastes.
Nach den Stöfsen zu urtheilen, fand die Einfahrt durch den Thorweg
in deii Hof dès Palastes auf einem entsetzlich unebenen Steinpflaster Statt.
Im Hofe standen Equipagen, Tarantas und Droschken. Aus der offenen
Küchenthür stieg uns wie Opferduft der Geruch einer cuisine’ française in
die Nase. Um den ganzen Hof lief ein hölzerner Söller mit vielen Thü-
ren. Da waren die Eingänge zu den Fremdenzimmern des ersten Hotels
in Tiflis. V .
In der Stubenreihe, welche nach derStrafse hinausgeht, befinden sich
Buffets, ein Billard und Speise-Salons. Mr. Guillaume, ein französischer
Koch, Besitzer des Hotels, übt hier seine Herrschaft aus. Kaum hätte ich
unter einer ungeheuren kaukasischen Pelzmütze % den französischen Kopf
herauserkannt. In den Zimmern befanden sich Reisende und Offiziere aller
Waffen der Armee-des Kaukasus,'essend, spielend, plaudernd, lesend. Als
Lectüre dient eine russische Zeitung aus Tifliä,; mit dem Namen Kawkas,
das französisch geschriebene Journal de St. Pétersbourg und die Pariser
Illustration. Censurwidrige Stellen in der letzteren sind mit dicker Schwärze
unlesbar gemacht und der Vergessenheit anheimgegeben. Während die angeschwärzte
Illustration öffentlich für Jedermann ausliegt, ist die einge-
schwärzte, welche die Censur nicht passirt-, für gute Freunde in der Buchhandlung
zu haben. Uebrigens ist man im Kaukasus mit der Presse bei
weitem freier, als im ganzen übrigen Rufsland.
Speise und Trank — der milde purpurrothe Kachetiner mundete ganz
vortrefflich, anfangs steigt er zu Kopf, später trinkt er sich wie liebes Was