96 Buch 11. Kap. 1. 16.
oben und nicht nach unten zu, sondern zugleich nach beiden und
nach allen Seiten, und ernähren sich und leben immerfort, so lange
sie Nahrung zu sich nehmen können. Und diese Kraft (der Seele)
lässt sich bei sterblichen Wesen von den andern getrennt denken,
die andern von dieser dagegen nicht. Das ist ofFenbar bei den
Gewächsen, denn in ihnen waltet keine andere Kraft der Seele.
Diesem Princip nach waltet also das Leben in allem Lebendigen.
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7. Die Seele ist die Ursache und das Princip des lebendigen
Ivörpers. Das sagt man aber in verschiedenem Sinn. Auf die
drei unterschiedenen Weisen zugleich ist die Seele Ursache, erstlich
der Bewegung ^n sich, sodann des^ Zwecks der Bewegung,
und endlich des Wesens der beseelten Körper. Dass sie deren
Wesen ausmacht, ist klar, denn der Grund alles Seins ist das
Wesen, das Sein alles Lebendigen ist das Leben, und dessen
Grund und Princip die Seele. Uebrigens ist der Begriff des der
Möglichkeit nach Seienden die Entelechie. Es leuchtet aber ein,
wie die Seele auch Ursache des Wozu (des Zwecks der Bewegung)
ist; denn wie der Geist mit Absicht wirkt, so auch die Natur,
und dies ist für sie Zweck. So ist demnach in dem, was lebt, die
Seele beschaffen. Alle Naturkörper sind Organe der Seele, die
thierischen sowohl wie die pflanzlichen: der Seele wegen sind sie.
8. Auch das in den Pflanzen befindliche Princip scheint eine
Art Seele zu sein. Sie allein kommt den Thieren und Pflanzen
gemeinsam zu; dieselbe lässt sich unterscheiden vom empfindenden
Princip, nichts aber hat Empfindung ohne sie.
9. Von den genannten Seelenkräften walten, wie gesagt, hier
alle, dort einige, dort eine einzige. Wir unterschieden aber die
ernährende, verlangende, empfindende, ortsbewegende, denkende
Kraft der Seele. In den Pflanzen waltet allein die ernährende.
10. Die Ernährung waltet in allen Pflanzen sowohl als Thieren.
7) De anima / / , cap. 4. pag. 415 b.
8) Ibid. cap, 5. pag. 411 b.
9) Ibid. ZT, cap. 3. pag. 414 ß.
10) Ibid. I I I , cap. 9. pag. 432 a.
Buch IL Kap. 1. §. 16. 97
11. Ernährend nennen wir den Theil der Seele, deren auch
ie Pflanzen theilhaftig sind.
12. Der ernährenden Seele bedarf nothwendig Alles, was da
lebt und Seele hat, von seiner Entstehung an bis zu seinem Untergange.
Denn nothwendig ist bei allem Entstandenen Zunahme
(Gipfel, ay.ftT]) und Abnahme, was ohne Ernährung unmöglich.
;^othwendig muss daher die ernährende Kraft allem beiwohnen,
was da wächst und vergeht.
13. Verwandelung {ctllokooig) ist die Veränderung nach der
Qualität. Die Zustände und Beschaffenheiten der Qualität entstehen
aber nicht ohne Veränderung im Erleiden, z. B. Gesundheit
und Krankheit^). Alle Naturkörper aber, die sich dem Erleiden
nach (durch äussere Affectionen) ändern, sehen wir Zu- und Abnahme
haben, wie die Körper und KÖrpertheile sowohl der Thiere
Avie der Pflanzen.
14. Die ernährende Seele waltet auch in den andern (nicht
bloss in den thierischen Organismen), und ist die erste und allgemeinste
Kraft der Seele, vermöge welcher das Leben in allen
waltet, Ihre Werke sind Zeugen und sich Ernähren; denn das
natürlichste Werk aller Lebendigen, die voll ausgebildet, nicht
verstümmelt sind, und keine spontane Entstehung (generatio aequi-
Yoca) haben, ist ihresgleichen hervor zu bringen, das Thier ein
Thier, die Pflanze eine Pflanze, um, so viel sie vermögen, am
Ewigen und Göttlichen Theil zu nehmen; denn darnach strebt
11) De anima iZ, cap. 2. pag. 419 b.
12) Ibid. III, cap. 12. pag. 434 a.
13) De coelo cap. 3. pag. 270 a.
a) An einer andern Stelle, de gen'eratione et corruptione Z, cap. 4. j)ag. 319 a,
erklärt Aristoteles die verschiedenen Arten der Bewegung oder Veränderung
so: ,,Erfolgt nun der Ujntausch des Gegensatzes der Quantität nach, so ist es
Zu- und Abnahme, wenn aber dem Ort nach, so ist es Trieb {cpoQa^ •— ich
kenne kein anderes deutsches Wort, was zugleich das passive Getriebenwerden
und active sich selbst Treiben ausdrückte), wenn aber der Erleidung
und Qualität nach, so ist es Verwandelung."
14) De anima I I , cap. 4. pag. 415 a.
Meyer, Gesch. d. Botanik. I. . 7
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