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214 B u c h III. Kap. 1. §.27.
der merkwürdigen Tliatsaclie, dass, während Poesie Geschichte und
vollends Philosophie ungeachtet der Pflege, die man ihnen angedeihen
Hess, in Alexandrien immer tiefer sanken, die sogenannten
exacten AVissenschaften und alle diejenigen, woran die Könige
weniger Theil nehmen konnten oder mochten, also auch die Anatomie,
glänzende Fortschritte machten? Warum aber die Naturg
e s c h i c h t e , und zwar nicht allein, wie wir später sehen werden,
die Botanik, sondern eben so die Zoologie von den alexandrinischen
Gelehrten fast gänzlich vernachlässigt wurde, da es doch
letzterer weder an Material noch an Begünstigung gefehlt zu haben
scheint (fanden wir doch Ptoleniäos Physkon gewisserrriassen sogar
unter den zoologischen Schriftstellern), ist mir räthselhaft.
So lange das Märchen Glauben fand, welches auch Sprengel i),
wiewohl nach Schneiders Vorgange schon sehr beschränkt, noch
aufnahm, die B ibl iothe k des Aristoteles und Theophras
t o s , und damit zugleich sämmtliche Werke dieser beiden Männer,
wären von den Erben des letztern in einem Keller versteckt,
bis endhch Apellikon die halb vermoderten Eollen für eine hohe
Summe gekauft und die unleserlich gewordenen Stellen willkürlich
ergänzt hätte, worauf die ganze Bibliothek durch Sulla als Siegesbeute
nach ßom geschleppt wäre; hier aber wären die Werke des
Aristoteles und Theophrastos einem Grammatiker Tyrannion in
die Hände gefallen, und erst durch ihn in nachlässig gefertigten Abschriften
zur OeiTentlichkeit gelangt; — so lange dieses auf Strabon's
2) Auctorität gegründete, doch kritiklos aufgefasste und ausgeschmückte
Märchen unbedingten Glauben fand, schien der
Grund, w^arum die Alexandriner den von jenen beiden grossen
Vorgängern gebahnten Pfad naturwissenschaftlicher Forschung
nicht verfolgten, auf der Hand zu liegen. Nachdem jedoch Stahr^ )
1) Sprengel, Gesch. der Bot. I, S. 55 f.
2) Straho XIII, cap. 1 pay. 608 et 609 edit. Casauhoni.
3) Stahr, Aristotelia II, S. 1—166. Kürzer, und doch noch gründlicher
behandelt B r andi s {Ilandb. d. Gesch. der griech. röm. Philos. II, Ahth. II, S.
66 ff.) denselben Gegenstand, und gelangt, bis auf kleinere für uns unerhebliche
Abweichungen, zu demselben Resultat.
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nachgewiesen hat, dass sich jene Erzählung nur auf die Autographa
der aristotelischen und theophrastischen Schriften beziehen
lässt, und dass Abschriften davon schon zur Zeit des
Ptolemäos Philadelphos in Alexandrien nicht fehlen konnten, fällt
jede Entschuldigung weg, die man aus der Unbekanntschaft mit
ihren Vorgängern hernahm, und der wahre Grund der Thatsache
lässt sich nur noch theils in der eigenthümlichen Richtung der
Alexandriner auf Philologie, theils in ihrer Vorliebe für das Wunderbare,
worauf ich später zurückkommen werde, erkennen.
Ursprünglicher Hauptzweck des Museums war nämlich Kritik
der Texte des Homeros und anderer alter Dichter und Prosaisten,
die man in verschiedenen oft abweichenden Abschnitten besass.
Eine neue Wissenschaft, die Philologie blühete auf, zunächst in
grammatischer, dann auch in höherer Kritik, und leistete für einen
grossen Theil der alten Literatur ausserordentliches. Allein in
der Naturgeschichte genügt es nicht, Handschriften mit Handschriften
zu vergleichen, da kam es auf den Umgang mit der
Natur selbst an; und diesem war jene philologische Richtung, wie
auch das üppige Hofleben in Alexandrien nicht günstig. Von
den Herophileern, einer medicinischen Secte in Alexandrien, sagt
Plinius^) gradezu: „In diesen Schulen zu sitzen und Vorträge
anzuhören war angenehmer, als durch Einöden gehen, und Tag
für Tag neue Pflanzen suchen." Und wie wir schon sahen, zu
Schaugeprängen dienten kostbare Pflanzenproducte des Auslandes,
merkwürdige Thiere; über ihre Herbeischaffung und Benutzung zu
wissenschaftlichen Zwecken schweigen die Nachrichten.
Doch wollen wir nicht vergessen, wie viel wir sonst den
Männern des alexandrinischen Museums schuldig sind, was sie
für Mathematik Astronomie Geographie und Anatomie gethan, dass
wir ohne sie jetzt vielleicht weder unsern Theophrastos und Aristoteles,
noch sonst einen jener Alten besässen, deren glückliches
Wiederauffinden uns aus der Barbarei des Mittelalters erlöste, und
der Geistesentwickelung der neuen Zeit die"^ Richtung gab. Die
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J) Sprengelj Gesell^ d. Bot, S, 55f.
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