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4 Bu c h I. §. 1.
Masse mannichfacher Erfahrungen ohne Zusammenhang und
Verständniss , wie sie das Leben darbietet im Umgange mit der
Natur, die unsern nächsten einfachen Bedürfnissen so freigebig
entgegenkommt, und aus dem höhern Bedürfniss des Geistes, aus
dem uns angeborenen Durst nach zusammenhängender Auffassung
der Dinge, mit einem Wort aus der Speculation. Man irrt,
wenn man sich einbildet, alle Naturforschung ginge von der Erfahrung
aus, die Speculation suchte sich ihrer erst allmälig zu bemächtigen.
Thatsächhch, wie alle Greschichte lehrt, sind beide
gleich alt und ursprünglich, und erhalten sich fortschreitend in
unaufhörlicher Wechselwirkung, so dass zwar bei einzelnen Trägern
der Wissenschaft, ja bei ganzen Völkern, in ganzen Zeiträumen,
bald die Empirie, bald die Speculation vorwaltet, doch nie
eine die andere gänzlich unterdrückt. Und wie könnte der Empiriker
auch nur zwei Thatsachen mit einander verknüpfen ohne
freie Vernunftthätigkeit? und woher nähme der Philosoph den Stoff
zu seinen kühnsten Constructionen, wenn nicht aus der Sinnenwelt?
Es ist thöricht, die Form auf Kosten des Stoffs zu erheben,
weil diesen die Natur darbietet, jene der freie Geist hinzufügt:
als ob die Form ohne den Stoff, woran sie sich bethätigt, Kealität
hätte. Doch eben so thöricht ist umgekehrt die Verachtung
der Form, weil sie der Veränderung unterworfen ist, und der
Dünkel auf den ßeichthum des Stoffs, der, einmal gewonnen,
seinen Werth ewig behauptet; als ob er nicht seinen Werth für
uns, für die Wissenschaft, erst dadurch bekäme, dass der Geist
ihn bildend zusammenfasst.
Ein gewisses Maass empirischer Pflanzenkenntniss, so wie einzelne
speculativ fruchtbare Gedanken, besassen ohne Zweifel andere
Völker lange vor den Griechen, und ich bin weit entfernt
zu leugnen, dass sich zahlreiche Spuren von beiden sogar schon
in den mosaischen Schriften nachweisen lassen. Wissens
c h a f t entspringt aber erst aus der Vereinigung beider, und weder
allein aus der sich selbst gleichen Erde, noch allein aus der Stirn
des Zeus. Sie hemmt ihren Fortschritt, so oft die beiden Erzeuger
gegen einander erkalten; wo aber beide nach solcher Tren-
B u c h l . Kap. 1. §.2. 5
nung sich wieder zusammenfinden, und keiner sich stolz des andern
überhebt, da liegen die Knotenpunkte grosser wissenschaftlicher
Fortentwickelung. Und der erste jener Knotenpunkte, wie für die
meisten, so auch für unsere Wissenschaft, fällt in die Zeit des
A r i s t o t e l e s . Erst bei den Griechen ist es folglich der Mühe
werth nachzuforschen, wie Empirie und Speculation, anfangs jede
für sich, das glückliche Ereigniss ihrer Vereinigung vorbereiteten
und endlich zu Stande brachten. Sei dieser Betrachtung unser erstes
Buch geweiht.
Erstes Kapitel.
Empirisclie Pflanzenkenntniss der Grieclien vor Aristoteles
und Theoplirastos.
§. 2.
M u t h m a s s l i c h e Menge der vor ihnen volksthümlich
b e k a n n t e n Pflanzen.
Wie viel Pflanzen etwa bis auf die Zeiten des Aristoteles und
Theophrastos, den Gründern wissenschaftlicher Botanik, den Griechen
bekannt, das heisst von Hirten Jägern Holzhauern Kohlenbrennern
Acker- und Gartenbauern, so wie von solchen, die
sich mit der Heilkunde abgaben, unterschieden sein mochten, lässt
sich natürlich unmittelbar gar nicht, mittelbar nur nach der Menge
volksthümlicher Pflanzennamen ungefähr beurtheilen, die sich zufällig
aus dem Sprachschatz jenes Zeitalters erhielten.
Miquel zählt in seiner schon genannten homerischen Flora in
den homerischen Gesängen mit Einschluss der Hymnen überhaupt
nur drei und sechzig Pflanzennamen. Wären Hesiodos, Pindaros
und die vier dramatischen Dichter eben so botanisch durchsucht,
schwerlich Hesse sich aus ihnen allen jene Zahl auch nur
bis auf hundert steigern. Was die ältern Historiker, besonders
Herodotos darbieten, beschränkt sich fast nur auf einige vegetabilische
Merkwürdigkeiten fremder Länder unter ungriechischen