34 B u c h L liap. 2. §. 6.
Als sich später Athen vorleuchtend über alle Städte griechischer
Zunge erhob, und mit unwiderstehlichem Zauber alles Grosse
und Schöne zu sich heranzog, begegneten sich dort auch die drei
genannten älteren Schulen der Philosophie, wirkten gegenseitig
vielfach auf einander, konnten aber weder zu einer befriedigenden
Vermittelung ihrer Gegensätze gelangen, noch abgesondert eine
vor der andern ihre Schwächen verbergen. Ihre Zeit lief ab. Au
ihren Trümmern erhob sich während des peloponnesischen Krieges,
der Griechenland acht und zwanzig Jahr lang mit kurzen Unterbrechungen
durchtobte, die trostlose Schule der für Geld lehrenden,
alle wahre Wissenschaft in Phrasen auflösenden Sophisten,
von denen ich nichts weiter zu sagen habe, und bald darauf neben
der ihrigen die der Sokratiker, unter denen ich nur bei
P i a t o n einen Augenblick verweilen werde. Dann aber geht der
Naturphilosophie, welche von den Sokratikern mehr als billig vernachlässigt
Avar, in A r i s t o t e l e s eine neue Sonne auf, an deren
Strahlen wdr uns im folgenden Buche erwärmen wollen. Hier,
bevor ich mich zu den einzelnen Philosophen wende^ habe ich
nur noch das Bekenntniss abzulegen, dass ich, ohne Vernachlässigung
R i t t e r s und anderer neuerer Forscher, fast alles Nichtbotanische
dieses ganzen Kapitels dem Meisterwerk unsres Brand
i s ^ ) verdanke, des ersten nach meiner Ueberzeugung, dem es
gelungen ist, Geschichte der Philosophie zu schreiben, ohne sie
nach dem Muster eines eigenen Systems zurecht zu schnitzeln.
Gefiele es doch dem trefflichen Verfasser, seinen zahlreichen Verehrern
wenigstens noch die zweite Abtheilung des zweiten Bandes
über Aristoteles zu schenken, den j a niemand besser kennt wie er!
§. 6.
D i e Philosophen vor Emp e d o k l e s.
,,Alles sei voll Grötter," also beseelt, lehrte dem alten poetischen
Volksglauben gemäss Tha i e s der Mi les ier , und ferner,
1) Brandis, C. A., Handbuch der Geschichte der griechisch-römischen Philosophie.
Berlin, Thl. I , 1835. (die Zeit vor Sokrates umfassend); TM. II, Äbtheil
I, 1844 (von Sokrates bis Piaton).
B u c h 1. Kap. 2. §. 6. 35
des Alls Urgrund sei das Wasser, aus ihm entstehe alles, in
ihm gehe es \inter." Wechselnde Verdichtung und Auflösung
war ihm der Verlauf des Werdens und Lebens. Man sieht, wie
innio- sich s e i n e Philosophie noch an die altern theologisch - poetischen
Kosmogenien schloss. Wie weit er sie bis zum Besondern
herabgeführt, ist unbekannt. Schriftliches scheint er nicht hinterlassen
zu haben.
A n a x i m a n d r o s , gleich seinem Vorgänger aus Miletos,
doch etwa dreissig Jahr jünger, geboren 611, gestorben 547 J.
V. C., hub in ähnlicher Weise an: „woher das, was ist, seinen Ursprung
hat, in dasselbe hat es auch seinen Untergang nach der
Bilhgkeit, indem es einander Busse und Strafe zahlt für die Ungerechtigkeit
nach der Ordnung der Zeit/' Das sich Loswinden
des Besondern aus dem Schoss des Allgemeinen erschien ihm also
gleichwie ein strafbarer Abfall vom Allgemeinen. Dieses nannte
er aQX^, ein schwer zu übersetzendes Wort, dem wir noch oft begegnVn
werden, und das die Bedeutung des Anf angs , der Urs
a c h e , des zu Grunde liegenden Princips in sich vereinigt.
Er dachte sich dabei aber nicht wie Thaies das Wasser oder sonst
etwas von bestimmter Qualität, sondern ein an sich Bestimmungsloses,
das er unsterblich, unvergängHch, alles umfassend und lenkend
nannte. So war ihm der Anfang iaQxr^) ebensowohl Urkraft wie
UrstofF, und aus diesem urkräftigen UrstoiF Hess er sich die Gegensätze
des Warmen und Kalten, Feuchten und Trockenen u. s. w.
entwickeln, durch die er allmälig bis zum Weltgebäude, zur Erde,
zu ihren Einzelwesen und Organismen fortschritt. Doch wie er
sich letztere dachte, ist uns nicht bekannt.
Ihm sehr nahe stand sein vermuthlich etwas jüngerer Zeitgenosse
A n a x ime n e s , gleichfalls aus Mi l e t o s . Dieser gab aber
wie Thaies seinem göttlichen UrstoiF wieder eine Bestimmung der
Qualität, indem er ihn Luft nannte, wiewohl er seine Urluft von
der gemeinen Luft sorgfältig unterschied.
Hier wäre der Zeitfolge nach, sowie sich dieselbe etwas abweichend
von Andern nach Brandis ergiebt, Pythagoras einzuschalten.
Indess zu einem Ueberblick der ionischen Philoso-
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