
Denn nachdem nun einmal durch Vergrößerung des Talonid der unteren Backzähne die Lücken
zwischen diesen ausgefüllt und das Stadium des trigonalen Gebisses (Fig. 19) erreicht war, ging die
Entwicklung des Gebisses in gleichem Sinne weiter, indem nunmehr auch die oberen Backzähne sich
in ähnlicher Weise vergrößerten. Am Hinterrand der oberen Backzähne h a tte sich neben dem
Protokon ein zweiter Innenhöcker, das „Hypokon“1) (h in Fig. 18) angelegt, das nunmehr die großen
dreieckigen Lücken zwischen den oberen Zähnen allmählich ausfüllte und so dem gleichzeitig niedriger
werdenden Trigonid (tr) der’unteren Backzähne gegenübertrat. Die Lücken verschwanden mit dem
Größerwerden des Hypokon mehr und mehr, und die bisher dreieckigen oberen Zähne wurden nach
und nach viereckig wie bei Gymnura (Fig. 20 u. 23). So entstand das „tetragonale“ Gebiß aus
dem „trigonalen“ . Dabei konnten die ursprünglich scharfkantigen Höcker der Backzähne erhalten
bleiben, was auf noch vorhandene Vorliebe zu tierischer K ost wie bei Insektenfressern gedeutet werden
muß. Meist aber wurden die Höcker niedrig und stumpf und eigneten sich so ganz besonders für
weichere Pflanzenkost, wie sie von Omnivoren bevorzugt wird.
Abgesehen von sehr weichen und saftreichen Früchten u. dergl. verlangen vegetabilische
Nahrungsstoffe im allgemeinen eine sehr viel ausgiebigere und sorgfältigere Zerkleinerung und Zerquetschung
beim Kauen zur Vorbereitung für die Verdauung, als das für animalische Nahrungsstoffe
nötig ist. Diesen Leistungen w aren offenbar die trigonalen Backzähne (Fig. 19, S. 36) noch nicht recht
gewachsen mit ihrer verhältnismäßig kleinen Mahlfläche, welche oben nur aus dem Protokon (p),
unten aus dem Talonid (ta) besteht und fa st nur zum Zerdrücken sich eignet. E r s t als durch das
neu hinzugekommene Hypokon (h, Fig. 20) auf diesem und dem gegenüberstehenden Trigonid (tr)
eine weitere Mahlfläche entstanden w ar und d adurch die bisherige Mahlfläche der Backzähne erheblich
vergrößert wurde, waren die mehr und mehr tetragonal gewordenen Zähne zu den höheren Kau-
leistungen befähigt, wie sie die Bewältigung vegetabilischer Nahrung erfordert. Denn je tz t waren
die ganzen Kauflächen der zuletzt lückenlos aneinander stoßenden B ackzähne zu zusammenhängenden
Mahlflächen geworden. Durch Erniedrigung des Trigonid (tr) kommen sie je tz t auch ungefähr in
eine Ebene zu liegen, und dadurch wurde ein ausgiebiges Verschieben der Kiefer beim Kauen in horizontaler
Richtung gegeneinander möglich, bei dem ein richtiges Zerreiben oder Zermahlen der Nahrung
wie zwischen zwei Mahlsteinen zustande kommt. Bisher konnte das nur in geringem Maße
geschehen, da die Kronen der unteren Backzähne zum Teil tief zwischen die der oberen griffen.
Auf diese Weise erst wurde die Aufnahme von Pflanzenkost in umfangreicherem Maße ermöglicht
und damit das Auftreten von Omnivoren Pflanzenfressern.
Die omnivoren Säuger des Paleocän zeigen alle Übergänge zwischen dem rein trigonalen Gebiß
zu einem ausgesprochen tetragonalen Gebiß. Letzteres lä ß t sich aus dem ersteren direkt ableiten.
Beim Übergang vom trigonalen Tierfressergebiß zum tetragonalen Omnivorengebiß ist aber
der vordere Teil des Gebisses im wesentlichen unverändert geblieben. Die Omnivoren des Paleocän
zeigen noch dieselben fangzahnartigen Eckzähne und dieselben kräftigen Prämolaren wie ihre cami-
voren Zeitgenossen. Die Omnivoren des älteren Paleocän waren offenbar noch alle imstande, tierische
Nahrung zu erwerben.
Das große Ereignis in der Geschichte der Säugetiere bei Beginn der Tertiärzeit war vielleicht
weniger das unvermittelte Erscheinen einer reichen Säugetierfauna, als vielmehr die Tatsache, daß
*) Wie vor allem Stehlin es betont, wird das sogenannte Hypokon bei verschiedenen Säugetiergruppen in verschiedener
Weise angelegt und darf nicht als homologe Bildung betrachtet werden, wenn es auch funktionell die gleiche Aufgabe erfüllt.
sich unter ihr eine auffallende Menge von Pflanzenfressern befand. Zwar waren sie sämtlich noch
Omnivoren, die sich alle noch mehr oder weniger gut auch auf tierische Kost verstanden. Aber
immerhin waren sie alle darauf eingerichtet, sogar in erster Linie Vegetabilien zu verzehren.
Bis dahin waren die Säugetiere (immer abgesehen von den Multituberculata) ausschließlich
auf tierische N ahrung angewiesen gewesen, wie die niederen W irbeltiere fast alle. Noch in der obersten
Kreide sind die Säugetiere ausschließlich Tierfresser: Und nun findet sich plötzlich im unteren
Paleocän eine reiche Fauna von Plazental-Säugetieren, in der mindestens zwei Drittel der Arten
als Pflanzenfresser gelten können. Nachdem an Stelle der ursprünglichen scharf zackigen Backzähne
solche mit mehr niederen, stumpferen Höckern getreten waren, und nachdem gleichzeitig ihre Mahl-"
fläche sich vergrößert hatte, war die Befähigung zur Ausnützung der Pflanzenkost entstanden. Der
erste Schritt in dieser Richtung war das Signal zur Eroberung des Pflanzenreichs als neuer Nahrungsquelle
für die Säugetiere. Es war eine der folgenreichsten Entscheidungen in der ganzen Geschichte
der Wirbeltiere.
Der Versuch, das Pflanzenreich als Nahrungsquelle zu erobern, ist oft genug schon von den
Reptilien unternommen worden, doch stets mit ungenügenden Mitteln und ohne größeren Erfolg.
Auch von den Säugetieren war es schon einmal wenigstens versucht worden. Im Ju ra erscheint
unvermittelt die hochspezialisierte Gruppe der Multituberculata, die aber ein dünner, steriler Zweig
am Säugetierstamm geblieben ist, der mit dem Paleocän verschwand.
Der durchschlagende Erfolg war den Placentalia Vorbehalten, als sie gegen Beginn der Tertiärzeit
an ihren mehrwurzeligen, zum ausdauernden und kräftigen Kauen vorgebildeten Backzähnen
auch die notwendige Größe der Mahlflächen sich erworben hatten. Mit diesen zweckmäßigen Werkzeugen
gelang der Angriff und war von dem außerordentlichsten Erfolg begleitet. Denn es war völliges
Neuland, das sich den Säugetieren auftat. Das Pflanzenreich b o t ihnen, die bisher ganz auf Tiere
angewiesen waren, seine unerschöpflichen und leicht erreichbaren Nahrungsstoffe, deren Ausbeutung
ihnen nunmehr frei stand. Die bis dahin sehr einäeitig ausgebildete Tiergruppe fand hier unendliche
Entwicklungsmöglichkeiten, die nur ausgenutzt werden mußten.
Die Folge war, daß die Entwicklung neuer Säugetiergestalten geradezu explosionsartig vor
sich ging. Sofort zeigt sich auch die divergierende Entwicklung der Formen unter Berücksichtigung
der verschiedenen Lebensmöglichkeiten. Wir erkennen, oft nur mit Mühe, unter den Placental-
Säugetieren des Paleocän schon die ersten Spuren der wesentlichsten Eigenschaften, durch die sich
später und noch heutigen Tages die großen Gruppen der Placentalia voneinander scharf unterscheiden.
So werden gewisse Formen unter den omnivoren Placentalia des Paleocän als die ältesten
Vertreter der Affen angesehen, andere stellen die ursprünglichsten Huftiere dar; wieder andere zeigen
Merkmale, die zu den künftigen Nagetieren oder zu den Ed en ta ta führen. Die ein rein trigonales
Gebiß sich bewahrten, gelten als die ältesten Vertreter der eigentlichen Raubtiere, und es ist interessant,
daß von diesen Urraubtieren, den Creodonta selbst eine Gruppe mit ausgeprägt omnivorem Gebiß
sich nicht trennen läßt, die Arctocyonidae, welche sich zu den carnivoren Formen verhält wie heute
die Bären zu den carnivoren Raubtieren.
Aber alle diese in verschiedenster Richtung divergierenden Placentalia des Paleocän stimmen
in zahlreichen ursprünglichen Merkmalen dermaßen überein, daß sie untereinander viel menr Ähnlichkeit
zeigen und miteinander näher verwandt erscheinen, als mit den späteren, hochentwickelten Vertretern
der Gruppen, als deren ursprünglichste Vertreter sie gelten. Die Abgrenzung der heutigen
großen Gruppen der Placentalia ist im ältesten Tertiär noch so wenig scharf, daß es bei manchen
Zoologien. Heft 71. . 6