I. Teil. N a h ru n g sa u fn a hm e bei T ie r fr e sse rn .
1. Ueber die Nahrungsaufnahme des Wolfes.
Im Gebiß des Wolfes fallen auf jeder Seite des Oberkiefers (Kg. 1) die drei größten Zähne auf,
die völlig verschiedene Gestalt zeigen. Im vorderen Teil des Kiefers is t es der höchste Zahn des
Gebisses, der kegelförmige, „haplodonte“ Eckzahn (G), der einem Dolch gleicht. In der Mitte der
Backzahnreihe fällt der längste Zahn des Gebisses, der „sekodonte“ B eißzahn (R)1) auf, dessen schmale
schneidende Krone eipe Klinge darstellt; und unmittelbar hinter ihm steht der breiteste Zahn des
Gebisses, der „bunodonte“ erste Mahlzahn oder Molar (M), der einen Stempel darstellt,. dessen
Oberfläche mit einer Anzahl vo n Höckern ausgerüstet ist.
Im Unterkiefer (Fig. 8, S. 7) finden sich dieselben drei ZahnfoTmen, mit der Modifikation,
daß infolge der alternierenden Stellung der Zähne in den gegenüberstehenden Zahnreihen nur die
hohe vordere Hälfte des unteren Reißzahnes dem oberen Reißzahn entspricht, während die niedere
hintere Hälfte zusammen mit dem folgenden Zahn dem oberen Mahlzahn gleichwertig ist.. Die Eckzähne
des Ober- und Unterkiefers wirken miteinander wie eine Greifzange, die Beißzähne wie eine
Schere und die Mahlzähne wie ein Mörser.
Wenn der Wolf ein Tier reißt, das ihm an Größe etwa gleichkommt oder ihn darin übertrifft,
etwa ein Schaf oder einen Hirsch, so tre ten dabei zuerst die mächtigen Eckzähne in Tätigkeit. Sie
dienen zunächst zum Festhalten der Beute und durchdringen dabei die Haut. Auf ihrer hinteren
Seite verläuft eine scharfe Kante. Mit einem kräftigen Ruck reißt der Wolf damit tiefe, lange
Wunden in das Fleisch. Gelingt es dem Eaubtier, beim Angrifl einen empfindlichen Teil seines
Opfers zu packen, etwa den Hals, so werden durch die wie Dolche wirkenden Eckzähne große Blutgefäße
oder die Luftröhre zerrissen. Die Folge is t ein rascher, durch Verblutung oder Erstickung
herbeigeführter Tod.
Nun m acht sich der Räuber an das Z'erfleischen der Beute. Dabei sind es zunächst immer noch
die Eckzähne, die die H auptrolle spielen. Mit ihnen wird die H au t aufgerissen, die Eingeweide heraus-
gerissen sowie losgerissen, was sich in mundgerechten Bissen mit diesen Werkzeugen los- und auseinanderreißen
läßt. Unterstützt werden sie dabei von den benachbarten kleinen Schneidezähnen und den
sekodonten vorderen Backzähnen, die zum Zerschneiden weicher Organe geeignet sind. F inden sich nun
zwischen den m den Rachen gelangten Bissen Knochen, die das Verschlingen erschweren, so treten
die großen Mahlzähne in Tätigkeit, die von dahinterstehenden kleineren u nterstützt werden. Zwischen
ihre breiten, mit Höckern versehenen Kronen wird dieser Bissen gebracht und hier so lange zermalmt,
bis er schluckgerecht geworden ist und ohne Schwierigkeit in den Magen gleiten kann.
*) Eine Änderung dieses allgemein gebrauchten Ausdruckes vorzunehmen halte ich für unnötig; wäre eine solche erforderlich,
so mußte „Scherenzahn“ oder „Zwickzahn“ dafür eintreten, nicht aber „Brechzahn“ , wie neuerdings vorgeschlagen wurde.
Zum Zerlegen des übrigen, von dem fest zusammenhängenden Knochengerüst durchzogenen
großen Tierkörpers in mundgerechte Bissen genügen jedoch die Eckzähne nicht. Soll solche Beute
richtig ausgenützt werden, so ist ein Werkzeug zum Zerteilen der Knochen nötig, am besten eine
Knochenschere. Ein solches Werkzeug besitzt der Wolf in der T a t in seinen mächtigen Reißzähnen.
Sie tre ten bei ihm in Tätigkeit, wenn durch bloßes Zerreißen der B eute die Bissen nicht mehr klein
genug geraten, um sie in den Rachen und zwischen die Mahlzähne bringen zu können. Sie ermöglichen
dem Räuber mit ihrer Hilfe von den Knochen größere oder kleinere Stücke scharf abzuzwicken.
Auf diese Weise ist er imstande, aus dem von größeren Knochen durchsetzten Körper seiner Beute
mundgerechte Bissen von beliebiger Größe abzuzwicken und auf diese Weise größere Beutetiere
fast restlos regelrecht zu tranchieren. Die einzelnen Bissen werden dann nach Bedarf noch zwischen
den Mahlzähnen zermalmt.
Kleineres Wild wie Hasen wird vom Wolf mit den Eckzähnen gepackt, durch kräftiges
Schütteln betäubt und durch Bisse getötet. Es wird dann lediglich mit Hilfe der von den benachbarten
kleineren Zähnen unterstützten Eckzähne und der bekrallten Vorderfüße in mundgerechte
Bissen zerrissen, die dann noch zwischen den Mahlzähnen schluckgerecht gemacht werden können.
Die Verwendung der Reißzähne ist zum Zerkleinern solcher Beute meist nicht notwendig. Ganz
kleine Beutetiere wie Mäuse werden mit den Vorderzähnen gefaßt und ohne weiteres ganz verschluckt.
Sie stellen nur einen einzigen Bissen dar, der nicht zerkleinert oder im Mund verarbeitet zu werden
braucht. Reißzähne und Mahlzähne treten dabei gar nicht in Tätigkeit. Auch gibt sich der Räuber
keine Mühe, sein Opfer vor dem Verschlucken zu töten. Sollte es nicht ohne weiteres geschluckt
werden können, so kann es zwischen den Mahlzähnen zuerst gekaut werden.
Diese verschiedene Behandlung der Beute zeigt uns heute noch beim Wolf die verschiedenen
Stufen in der Art der Nahrungsaufnahme, wie sie sich bei den Raubtieren im Laufe der Erdgeschichte
entwickelt hat. Ursprünglich wurden kleine lebende Tiere unzerstückelt und unzerkaut verschluckt.
Auf der nächsten Stufe wurde der Bissen vor dem Verschlucken zwischen den Backzähnen zerkaut.
Auf einer höheren Stufe wurden die Raubtiere fähig, eine gefangene größere' Beute zu bewältigen,
indem sie sie m it'den bekrallten Vorderfüßen festhalten, mit den vorderen Zähnen zerreißen und die
einzelnen Stücke nach Bedarf zerkaut oder unzerkaut verschlucken. Auf der höchsten und zuletzt
erreichten Stufe wird der Körper großer Tiere mit den Reißzähnen zerlegt, nachdem die Beute getötet
worden war.
2. Carnivore und omnivore Raubtiere.
Wie der Wolf, so verhalten sich beim Verzehren ihrer Beute auch die übrigen Canidae, Hund,
Schakal, Fuchs usw., die im wesentlichen das gleiche Gebiß besitzen. Sehr charakteristisch ist nun
für die Familie der Canidae die Zahl ihrer Molaren oder Mahlzähne (Fig. 1 und 8). Sämtliche
lebende Arten mit zwei Ausnahmen (Otocyon und Icticyon) besitzen im Oberkiefer zwei, im Unterkiefer
drei bunodonte Molaren (einschließlich des unteren Reißzahnes, dessen hintere Hälfte ja m a h ||
zahnartig ausgebildet ist). Auch ist es sehr bezeichnend für die Canidae wie für sämtliche fleischfressende
Säugetiere, deren hintere Backzähne als Mahlzähne ausgebildet sind, daß diese Molaren
gegen das Ende der Zahnreihe an Größe abnehmen, so daß der letzte der kleinste ist. Der letzte
untere Molar ist bei der Gattung Cctnis ganz verkümmert und besitzt nur noch eine einzige Wurzel,
während normal entwickelte Backzähne bei allen Säugetieren wenigstens zwei getrennte Wurzeln