Ich verfolgte speziell die Antriebe, welche von den mancherlei Versuchen der luftatmenden
Wirbeltiere (Tetrápoda) dargestellt werden, sich die verschiedenen Nahrungsquellen in ihrer Umgebung
nutzbar zu machen, und möchte mich hier auch ganz darauf beschränken. Die Nahrungsquellen,
die zur Verfügung stehen, und die Art, wie sie am besten auszunützen sind, gehören ja zu
den mächtigsten Antrieben, Welche oft die ganzen Entwicklungsrichtungen bestimmen. Den Wirbeltieren
stand zu allen Zeiten sowohl das Tierreich wie das Pflanzenreich als ausgiebige Nahrungsquelle
zu Gebote. Während sie aber das Tierreich von Anfang an auszunützen vermochten, mußten
erst bedeutende Änderungen in ihrer Organisation vor sich gehen, bis sie nach manchen weniger
erfolgreichen Versuchen endlich in der Lage waren, in vollem Umfange auch das Pflanzenreich als
Nahrungsquelle zu gewinnen.
Die Säugetiere hielten sich zuerst nur an wirbellose Tiere. Es bedeutete für sie aber einen
starken Antrieb, auch Wirbeltiere zu bewältigen, und erst nach und nach lernten sie es, diese als
wesentliche Nahrungsquelle zu benutzen. E rst als sie soweit waren, konnten sie dem Antrieb folgen,
den das Pflanzenreich als Nahrungsquelle auf sie ausübte. Denn erst nachdem sie, als Wirbeltier-,
fresser -größere'Mahlflächen auf ihren Kauzähnen erworben hatten, war der große Erfolg möglich,
der aus ihnen die pflanzenfressenden Säugetiere entstehen ließ. (Es ist aber vielleicht, n icht gerechtfertigt,
diesen Entwicklungsgang für alle Pflanzenfresser anzunehmen.) E rst als einmal Pflanzenfresser
m erheblicher Menge vorhanden waren, konnten auch sie als neue ausgiebige Nahrungsquelle
in Betracht kommen. Denn je tz t wirkte ihre Gegenwart als mächtiger Antrieb auf die Wirbeltierfresser,
bis aus diesen die typischen Säugetierfresser oder Carnivora entstanden waren.. Säugetiere,
welche im Meere ihre Nahrung suchten, kämen erst nach und nach dazu, die verschiedenartigen
d o rt vorhandenen Nahrungsquellen aufzufinden und richtig auszunutzen. Während ab,er Unter
den Antrieben, welche von den Nahrungsquellen des festen Landes ausgingen, die Kaufähigkeit des
Gebisses auf eine hohe Stufe gesteigert worden war, wurde sie unter den Antrieben, welche die
Nahrungsquellen des Meeres ausübten, allmählich wieder abgebaut und schließlich das ganze Gebiß
aufgegeben.
Auch als unter den Tierfressern spezielle Säugetierfresser entstanden waren, stellte sich ganz
allgemein auf allen ihren Linien der Trieb ein, bei dieser Art von Nahrung das Zerkauen der Nahrung.
im Mund wieder ganz aufzugeben.
Bei der Entwicklung der tierfressenden Säugetiere ließ sich beobachten, daß jedesmal, wenn
ein Fortschritt in der Ausbildung des Gebisses erreicht war, der einem vorhandenen Bedürfnis entsprach,
von dieser neuen Plattform aus sich neue Lebensmöglichkeiten eröffneten. Es tra ten neue,
vorher nicht vorhandene Bedürfnisse auf, da Antriebe wirksam wurden, die vorher nicht zur Geltung
kommen konnten.
Während ich versuchte, die Wirkung der Motive zu verfolgen, von denen ich annahm, daß
sie wesentlichen Einfluß auf die Geschichte der Wirbeltiere ausgeübt hatten, drängten sich mir eine
Anzahl von Fragen nach der Bedeutung einzelner bei den Wirbeltieren zu beobachtender Erscheinungen
auf. Ohne ihre befriedigende Beantwortung mußte mir eine weitere Fortsetzung des Weges,
den ich bei meinen Betrachtungen verfolgte, erfolglos erscheinen, während ich von ihrer richtigen
Beantwortung reiche Förderung erhofien durfte. Es handelte sich dabei unter anderem um die
Frage nach der eigentlichen Bedeutung getrennter Zahnwurzeln, oder nach der Bedeutung vergrößerter
Prämolaren, um die Frage nach der Bedeutung und den Ursachen der Homöothermie, oder
nach den Ursachen der Warmbllitigkeit der Vögel. Ich darf gestehen, daß mich einige solcher Fragen
lange beschäftigt hatten, ohne daß ich eine befriedigende Antwort fand, da ich ihren Kern nicht
richtig erfaßt hatte, bis ein glücklicher Gedanke mir eine mitunter verblüffend einfache Lösung gab,
die ein helles Licht auf die Zusammenhänge warf.
Bei diesen Ausführungen ließ es sich n icht vermeiden, verschiedentlich auch allgemein bekannte
Fälle aus der Stammesgeschichte wiederzugeben, die zur Erläuterung dienen konnten. Im übrigen
lag mir bei der Fülle des Stoffes die Absicht fern, eine irgendwie erschöpfende Darstellung aller
hieher gehörigen Vorgänge zu geben. Ich beabsichtigte eben nur eine Anzahl Beispiele zu geben,
die ein Licht werfen können auf die Art und Weise, wie unter Einwirkung bestimmter Antriebe die
Entwicklung verschiedener Wirbeltierstämme vor sich gegangen sein mag.
Die Anregung und die Grundlage zu diesen Betrachtungen ha tten mir die osteologischen
Sammlungen des Straßburger Museums gegeben, welche ich während einer 38jährigen Tätigkeit
als Konservator dieses Museums angelegt hatte. Infolge meiner V ertreibung aus dem Elsaß ist mir
das Fundament zur Fortsetzung solcher Studien entzogen. Ein Abschluß in der vorliegenden Form
gelang mir aber am Zoologischen Museum München, wo durch das freundliche Entgegenkommen
des Direktors, Herrn Professor Dr. Zimmer sowie der übrigen Beamten des Museums mir in weitgehendem
Maße die Benutzung der Sammlungen ermöglicht wurde. Mit der mir fehlenden Literatur
unterstützte mich in ganz besonders zuvorkommender Weise Herr Professor Dr. Stromer von
Reichenbach. Allen diesen Herren spreche ich dafür meinen besten Dank aus.
M ü n c h e n , Zoologische Sammlung, im März 1920.