E in le itu n g .
Den ersten Anlaß zu den folgenden Betrachtungen gab mir ein Vortrag „über Nahrungsaufnahme
und Gebiß bei Raubtieren“ , den ich schon vor längerer Zeit in Straßburg gehalten hatte,
und der den wesentlichen Inha lt der 3 ersten Abschnitte bildet. Die Gedanken, die ich dabei entwickelte,
führten mich, als ich sie weiter verfolgte, mit Notwendigkeit zu der Frage nach den Ursachen,
welche das Entstehen der Säugetiere und ihrer großen Gruppen zur Folge hatten. Bei diesen
Betrachtungen leitete mich hauptsächlich der Wunsch, die besonderen Antriebe herauszufinden,
welche einzelne Stämme der Wirbeltiere dazu gebracht hatten, bestimmte Entwicklungsrichtungen
einzuschlagen, indem ich diese als notwendige Folgen der Wirkung dieser Antriebe ansah. Ich wollte
dabei zeigen, daß bei der Entwicklung der Wirbeltierstämme gewisse einheitliche Gedanken erkennbar
sind, welche als mächtige, in ihrer Umgebung begründete Antriebe oder Motive auftraten. Stets
bereit, sich geltend zu machen,- äußerte sich aber immer nur dann ihre Wirkung und ließ einen
großen Erfolg sehen, wenn im Bau gewisser Organe durch bestimmte, oft aus anderen Ursachen
hervorgegangene Änderungen ein Zustand eingetreten war, welcher einen günstigen Boden für sie
darstellte. In diesem Falle werden sie zu mächtigen Leitmotiven, welche die ganze Entwicklungsrichtung
angeben und beherrschen.
• Man muß aber das eigentliche Leitmotiv oder den Antrieb, welcher die Entwicklungsrichtung
angibt, von der morphologischen Grundlage unterscheiden, auf Grund deren sich die Wirkung des
Motivs erst äußern kann, und welche die Umsetzung des Motivs in die sichtbare Wirklichkeit ermöglicht.
So ist als das mächtige, einheitliche Leitmotiv, welches zur Entstehung sowohl der Säugetiere
wie der Vögel geführt hat, das Streben nach reichlicherer Ernährung durch mechanische Zerkleinerung
der aufgenommenen Nahrung zu betrachten mit ihren mannigfachen günstigen Folgen für das
Gedeihen des Organismus. Die morphologische Grundlage dagegen, welche die Auswirkung dieses
Motivs ermöglichte, war für die Säugetiere das Auftreten getrennter Zahnwurzeln, für die Vögel
das Auftreten eines leistungsfähigen Muskelmagens. Diese morphologische Grundlage kann als
das äußere Zeichen gelten, unter dem das Leitmotiv in die Erscheinung tritt, so daß es selbst als
das Leitmotiv ungesehen werden kann.
Die Antriebe, unter deren Einwirkung neue Tierstämme entstanden, sind nichts weiter als
die Bestrebungen des Organismus, alles, was die umgebende Natur bietet, nach seinem Vermögen
aufs beste zu seinem Vorteil auszunützen. Dies Vermögen, auf Grund dessen neue, bisher wirkungslos
gebliebene Antriebe wirksam werden, stellt sich bei solchen Gelegenheiten ein, da ein Organ unter
dem Zwang der darauf einwirkenden Verhältnisse sich abändert. Dabei kann es eine besondere,
vielleicht gar nicht sehr auffallende Ausbildung erreichen, die aber das Wirksamwerden des Antriebes
erst ermöglicht.
Zoologien. Heft 71.