Es wäre ein Leichtes, die Stellung jedes Vogels in der aufgestellten Reihe aus der
Stärke der Muskeln, ihrer Insertion genauer zu umreißen. Man findet keine Widersprüche,
sondern im Gegenteil die Tabelle der Muskeln bestätigt und beweist die Mechanik der Atembewegung,
wenn der Vogelkörper vom Untergrund getragen wird.
D ie At emb ew e g u n g h e im Fl ug.
Im letzten Kapitel dieser Arbeit soll der Zusammenhang von Atemhewegung und Flug
einer Untersuchung unterzogen werden. Die Frage ist die: findet heim Flug eine Atemhewegung
statt? D aran schließt sich die zweite Frage: wenn dies der F all ist, ist dann die Atmung
mit dem Flügelschlag gekoppelt? Und schließlich lautet die letzte Frage: wenn ein Zusammenhang
zwischen Flügelschlag und Atmung vorhanden ist, in welcher Phase des Flügelschlags
findet die Thoraxerweiterung sta tt und wodurch ist diese bedingt?
D i e b i s h e r i g e n T h e o r i e n : Wenn man sich einen Überblick über die Geschichte des Problems Flug und
Atmung zu verschaffen sucht — sie existiert im wesentlichen erst seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts , so ist festzustellen,
daß eine experimentelle Untersuchung, die sich direkt auf den fliegenden Vogel erstreckte, im wesentlichen nur
zweimal in Angriff genommen worden ist: durch Marey (1890) und durch Groebbels (1932). Der Grund dafür ist die
Schwierigkeit der Aufgabe. Es sind sogar eine Reihe bedeutender Zoologen soweit gegangen zu sagen, daß eine Lösung des
Problems auf diesem Wege überhaupt nicht möglich sei. Nicht nur der Versuch, sondern auch seine Auswertung bereiten
die allergrößten Schwierigkeiten. Wie gefährlich es ist, dabei mit vorgefaßten Meinungen belastet zu sein, zeigt ein Beispiel
in neuester Zeit. Groebbels (1932) schreibt: „Da wir uns vorstellen müssen, daß mit dem Aufschlag die Säcke sich inspiratorisch
füllen, mit dem Niederschlag hingegen exspiratorisch entleeren, so muß sich das Prinzip der Füllung und damit
Versteifung in der Aufschlagsphase auswirken“, und diesen Rhythmus von Flügelschlag und Atmung hat er dann tatsächlich
aus dem experimentellen Ergebnis abgelesen. — Ebenso verfänglich ist es, lediglich aus dem Experiment am ruhenden
Tier auf den Atmungsvorgang im Fluge zu schließen, wie dies Bert (1870), Baer (1896) und Soum (1896) getan haben.
— Eine Reihe von Forschern hat schließlich auf Grund eingehender anatomischer Kenntnisse und klarer physikalischer Anschauungen
eine Theorie über Flug und Atmung entwickelt, denen aber noch die experimentelle Bestätigung fehlte und
deshalb nicht sehr beachtet worden ist. Es seien hier genannt Prechtl (1846), Droisier (1866), Alix (1874), Strasser (1886),
Headley (1893), Bethe (1925).
Zwei Theorien beherrschen die Vorstellungen über das Problem Flug und Atmung. Die erste besagt, daß der Thorax
beim Fluge festgestellt wird, die zweite, daß er während des Fluges beweglich bleibt. | | Es ist der Gedanke geäußert
worden, der Vogel werde durch seine Luftsäcke instand gesetzt ohne neue Inspiration lange Zeit zu fliegen. Er fülle sich vor
dem Aufstieg mit Luft und zehre dann von dem mitgenommenen Vorrat. In diesem Sinne scheinen sich Bergmann und
Leuckart (1852) äußern zu wollen, wenn s ie schreiben, daß durch die Einatmung die Oberfläche des Tieres vergrößert
werde. Dadurch sei es dem Vogel leichter möglich, in der Luft zu bleiben. „Namentlich, wenn sie (die Oberfläche), wie es
sehr wahrscheinlich ist, vor dem Fliegen durch Inspiration vermehrt ist.“ Jovanowitsch (1876) und Nuhn (1886) behaupten
sogar mit Bestimmtheit, daß der Vogel vom Vorrat der Luftsäcke während des Fluges atme. Auch Tiedemann
(1810) und Pagenstecher (1880) scheinen ähnliche Vorstellungen zu haben. Noch 1905 schreibt Fischer: „Während die
Lunge der Vögel mit gewaltiger Energie ihre respiratorische Tätigkeit vollbringt, speichern die voluminösen Luftsäcke
große Mengen O -reicher Luft auf, so daß das Tier selbst in schnellstem Flug bei den ungünstigsten Gegenströmungen der
Atmosphäre genügend mit Atemluft versehen ist.“ Indessen widersprechen einer solchen Theorie die physiologischen Überlegungen.
In kürzester Zeit wäre der gesamte gespeicherte Sauerstoff bei der Flugarbeit verbraucht. Hunter (1861) nimmt
an, der Luftvorrat der Luftsäcke reiche 2,5 Minuten für die Atmung im Fluge aus. Diese Zeit scheint aber noch bei weitem
zu hoch geschätzt zu sein. Man muß sich nämlich klar machen, daß eine vollständige Kompression der Luftsäcke überhaupt
nicht möglich ist, so daß ihr Inhalt nicht rasch ausgenutzt werden kann; auch konnte ein vollständiger Verbrauch des
O -Gehaltes der atmosphärischen Luft bisher an keinem Vogel nachgewiesen werden.
Auf Grund dieser Erkenntnis nimmt Baer (1896) eine gewisse Lungenventilation während des Fluges an, steht aber
auf dem Standpunkt, daß dabei eine Bewegung des Thorax nicht stattfinden könne. Er glaubt, diese Vorstellungen auch
erklären zu können: „Würden die Brustwände während des Fluges nicht fixiert, so würde die Kontraktion der Brustmuskeln
nicht sogleich durch eine Senkung der Flügel, sondern zunächst durch eine Hebung des Brustbeines beantwortet werden,
weil ja bei der Bewegung des letzteren ein v ie l geringerer Widerstand zu überwinden wäre als beim Niederziehen der
Flügel.“ Baer überträgt hier die Atmungsverhältnisse des stehenden Vogels auf den fliegenden. Für ihn ist der bewegliche
Teil des Brustkorbes bei der Atmung nur das Sternum. Um dem großen Brustmuskel einen festen Ansatz zu verschaffen,
ist er zu der Annahme der Feststellung der Rippen gezwungen. In „Experimentelle Bestimmung des Schwerpunkts der
Vögel“ habe ich versucht, das Sternum als den Träger der gesamten Körperlast während des Fluges nachzuweisen. Bei
dieser Vorstellung ist e s undenkbar, daß die Beweglichkeit des Sternums, d. h. die Unbeweglichkeit, irgendwie durch die
Rippen beeinflußt werden könnte. Es wird keine neue Kraft durch das Feststellen der Rippen erzeugt, die dem Sternum
besseren Halt geben könnte. Neben der Kraft der Flugmuskeln wirkt auf das Sternum nur die Schwerkraft. Diese ändert
sich in keiner Weise dadurch, daß die Rippen in mehr gestrecktem oder gekrümmtem Zustand sich befinden. Es ist also
Baers Begründung für die Fixierung des Brustkorbes beim Fluge in diesem Sinne nicht mehr stichhaltig. — Weiter stellt
Baer fest, daß bei Warmblütern die Zahl und Tiefe der Atemzüge mit dem Arbeitsaufwand zunimmt und auch noch nach
der Leistung nicht sogleich wieder absinkt; dagegen „bemerkt man bei Vögeln, z. B. einer Taube, die eben eine große
Strecke in rasender Geschwindigkeit durchflogen hat und wobei 8—10 Flügelschläge in der Sekunde ausgeführt wurden,
kaum eine Beschleunigung der Atmung“. Daß diese Feststellung nicht zutrifft, weiß jeder Vogelbeobachter. Landet ein
Vogel nur nahe genug, so läßt sich die stark beschleunigte Atembewegung des Sternums sehen. — Auch scheint Baer einem
Fehlschluß anheimgefallen zu sein bei der Beobachtung eines im Zimmer fliegenden Vogels: „Bemerkenswert ist es, daß
bei Vögeln, d ie in einem beschränkten Raum, wie in einem Zimmer, herumzufiattern gezwungen werden, in allerkürzester
Zeit Atemnot und hochgradige Ermattung sich einstellen.“ Baer folgert daraus, daß dem Vogel nicht genügend Gegenwind
zur Verfügung steht, der die Luftsäcke sonst aufbläht und die Atemnot nicht eintreten läßt. Nach unserer jetzigen
Vorstellung über die Flugtechnik der Vögel können wir Baer nicht mehr zustimmen. Lorenz (1933) hat auf die Verschiedenheit
der Flugarten bei den Vögeln hingewiesen. In einem engen Raum, in dem es dem Gleitruderflieger schon zu fliegen
unmöglich ist, kann sich der Rüttelflieger noch gut bewegen. Danach ist es klar, daß z. B. eine Krähe mit ihrer hohen
Gleitrudergeschwindigkeit viel schneller durch die für sie anstrengende dauernde Abbremsarbeit in engem Raum „außer
Atem“ kommt, als z. B. eine Taube, deren Rüttelfähigkeit viel besser ausgebildet ist. Schließlich braucht man nur an den
Schwirrflug der Kolibris zu denken, denen kein Gegenwind zur Verfügung steht — der nach Baer für die Atmung notwendig
ist —■, und der doch nicht ermattet niedersinkt.
Nunmehr sollen seine experimentellen Untersuchungen einer kritischen Beleuchtung unterzogen werden. Baer befestigte
eine Taube mit gestrecktem Halse auf einem Brett. Den Schnabel steckte er in das „leicht trichterförmig erweiterte Ende“
einer Glasröhre bis über die Nasenlöcher. Die Glasröhre stand mit einem Wasserstrahlgebläse in Verbindung. Die aus dem
Glasrohr kommende Luft konnte an den Nasenlöchern vorbeistreichen. Das Ergebnis war, daß die Atembewegungen schwächer,
flacher und seltener wurden, aber nicht stillstanden. „Auch bei diesem Versuch, den ich“ — so schreibt Baer —■ „mit
kurzen Unterbrechungen über eine halbe Stunde ausdehnte, äußerte das Versuchstier nicht das geringste Mißbehagen.“ —
Aus der Versuchsdaiiegung kann man nur schließen, daß sich der Brustkorb tatsächlich bewegt hat. Strohl (1911) hat den
BAERSchen Versuch nachgemacht und berichtet darüber: „Trotzdem dies bis zu einer Viertelstunde fortgesetzt wurde,
zeigte sich kein Aufhören der Atembewegungen. Die Atemfrequenz wurde höchstens etwas stärker und die einzelnen Atemzüge
etwas oberflächlicher.“ Es ist demnach nicht ersichtlich, wie Baer dieses Versuchsergebnis als Stütze seiner Theorie
anführen kann! Der Vogel nimmt eine ganz unnormale Lage ein, ihm wird mehr oder weniger zwangsweise Luft in die
Nasenlöcher getrieben und das Ergebnis — widerspricht der BAERSchen Theorie!
Baer hat dann noch folgenden Versuch angestellt: er hat in die Luftröhre eines Vogels ein Manometer gestellt.
Wenn er nun den Flügel bewegte, so erhielt er Ausschläge im Manometer. Das Ergebnis eines Versuches, daß beim öffnen
des Humerus die Manometerschwankungen nicht mehr eintreten, bringt nichts Neues. Wenn Baer umgekehrt Luft in die
Trachea blies, dann hoben sich die Flügel. Er folgert daraus, daß die Flügelbewegungen eine Ventilation gewährleisten. —
An der Richtigkeit der Beobachtung ist nicht zu zweifeln. Aber Strohl zitiert Bert: „Dagegen können Volumenschwankungen
der Axillarräume beim Fluge sehr wohl auf die Luftventilation zwischen Trachea, Hauptbronchus und dem am Lun-
genhilus liegenden Luftsackabschnitten einwirken und als In- und Exspirationsstöße durch Verschiebung der Luftsäule der
Trachea sich geltend machen.“ Man sieht also, ein Luftstoß in der Trachea tritt ein, aber wo liegt die Bedeutung dieses
Vorganges für die O -Versorgung des Lungengewebes? Bruno Müller (1908) stellt dazu richtig fest, daß die alternierende
Kompression der oberhalb und unterhalb des Schultergelenkes liegenden Divertikel die Luft eigentlich in ein und demselben
Luftsack verschiebt, also nicht die Lungenventilation fördern kann. Er sagt dann weiter, daß die vortrefflichsten Segelflieger,
die doch gelegentlich bis über eine halbe Stunde lang keine Flügelbewegung ausführen, die mächtigsten axillaren und
subpectoralen Luftbehälter besitzen.
Auf die .Unzulänglichkeit der BAERSchen Theorie während des Segelfluges weist auch Gmelin (1908) hin. Denn wenn
beim Fluge nur durch die Flügelbewegung eine Lungenventilation zustande kommt, dann wird nach ganz kurzer Zeit der
Sauerstoff der Luftsäcke vollständig verbraucht sein, wenn kein Flügelschlag stattfindet. Deshalb schließt Gmelin richtig:
für diese Locomotionsform „reichen weder die physikalischen nooh physiologischen Erklärungsversuche in befriedigender
Weise aus. Es würde aber in diesem Falle die Arbeitsleistung des Vogels während des Schwebens in Widerspruch stehen
mit bestimmten allgemein gültigen Gesetzen der Muskeltätigkeit.“
Nunmehr soll zu einer weiteren Anschauung von Baer Stellung genommen werden. Er nimmt nämlich an, „daß, indem
der mit vorgestrecktem Kopf fliegende Vogel sich gleichsam in die Luft einbohrt, diese in dessen Nasenöffnung ein-
strömt und d ie Luftsäcke w ie Fallschirme aufbläht.“ — „Dafür sind die Nasenlöcher verhältnismäßig groß, schief nach
vorne und außen und bei manchen großen Fliegern wie Procellaria u. a. in eine Röhre mit vorstehenden Rändern verlängert;
auch bei Diomedea findet sich eine ähnliche Einrichtung.“