
dere des Chinesen, so darf es keinesfalls bezweifelt
werden, dass wir in anderer Beziehung sie ihm in
höherm Maasse zugestehen müssen. Ein Volk, welches
zu der Zeit, da Deutschland, da England noch
in rohbarbarischen Zuständen versunken war, schon
seit mehr als 2000 Jahren es zur Entwicklung eines
geordneten Staates, zu einer Literatur, Aufzeichnung
der Geschichte und der astronomischen Vorgänge;
so wie zu manchen Kunstleistungen gebracht hatte,
kann unmöglich in geistiger Beziehung als ganz vernachlässigt
betrachtet werden. Anders wirken freilich
dagegen dieselben Momente auf uns, wenn wir dann
fast Jahrtausende hindurch den Zustand dieses Volks
einen und denselben bleiben sehen,'wenn wir jenes
rastlose Streben vermissen, welches so sehr die
Frischheit und Lebendigkeit des Geistes erhält, und
wenn wir somit ein Retardiren geistigen Lebens ge^-
wahr werden, mit welchem sich Das keineswegs vertragen
kann, was wir unter der Bedeutung des Genius
zu verstehen gewohnt sind. Nothwendig liegt
dann uns immer das Gefühl im Hintergründe, dass,
bei aller Noth und Unruhe, welche oft eben die steten
Umwandlungen bei jenem rastlosen Wachsthum
hervorrufen, doch gerade hierin ein so wesentlicher
Unterschied der menschlichen vor der thierischen Seele
gegeben sei. — Denn wer bewundert nicht den Staat
der Bienen, wer fände nicht, dass die Wahl ihres
Anbaues, die Gestaltung ihrer Zellen, die Ordnung
ihres Haushaltes an sich dem grössten menschlichen
Scharfsinn Ehre machen würde! —- aber eben dass
nun Das seit Jahrtausenden immer dasselbe bleibt, dass
keine Neuentwicklung, keine Fortschreitung hier möglich
ist, stellt es gleich wieder so weit zurück. —-
Wie sehr diese Gedanken auf chinesische Bildung
Anwendung leiden, brauche ich kaum hinzuzusetzen!
__Sehr viele merkwürdige Betrachtungen würde übrigens
jedenfalls, gerade in diesen Beziehungen, noch
Der anstellen können, welcher die Sprache der Chinesen
genauer in ihrer Entstehung und ihrem Beharren
zu verfolgen im Stande wäre. Fr. Schlegel (a.
a. 0. S. 45) sagt schon: «Ein merkwürdiges Beispiel
einer Sprache ganz ohne Flexion, wo Alles, was andere
Sprachen durch diese andeuten, durch eigne
schon für sich bedeutende Wörter verrichtet wird,
bietet das Chinesische dar; eine Sprache, die mit
ihrer sonderbaren Einsylbigkeit, wegen dieser Conse •
quenz, oder vielmehr vollkommenen Einfachheit der
Structur, für das Verständniss der ganzen Sprachwelt
sehr lehrreich ist.» Und nicht nur die gesprochene
Sprache hat diese Sonderbarkeit, wegen welcher sie
— wenn man andere beweglichere und flectirende
Sprachen einem weichen organischen Körper vergleichen
darf — mehr an den Bau einer hölzernen Gliederkette
erinnert, sondern ebenso ihre Schrift, mit