
Lin musste nach der Convention von Kan-tön zur Verantwortung
in Pe - kin erscheinen; »nicht«, wie der Kaiser ausdrücklich
sagt, »auf die Vorstellungen der Barbaren, sondern weil der wirkliche
Sachverhalt jetzt vollständig hekannt geworden sei. Der durch
seine fehlerhafte Amtsführung verursachte Schaden habe diese
Maassregel veranlasst, keineswegs irgend eine Rücksicht auf die
englischen Vorstellungen.« — Lin wurde um vier Rangstufen degra-
dirt und nach I l i verbannt, richtete aber an den Kaiser eine frei-
müthige Rechtfertigung seiner Politik, und bat sich der Armee
anschliessen zu dürfen, welche damals in Tse-kian operirte. Das
wurde ihm gewährt. Seine Rathschläge bewirkten nachher die Aufstellung
bei T se -k i, welche zur Niederlage führte. — Darauf
scheint Lin sich in das Privatleben zurückgezogen und mit Literarischen
Arbeiten beschäftigt zu haben, bis er 1851 hochbejahrt Vom
Kaiser Hien-fun zu Unterdrückung der Tae-pin-Rebellion nach
Kuan-si geschickt wurde. Er starb auf der Reise. Die ’Wichtigkeit
des schwierigen Auftrages aber beweist, wie hoch man damals
seine Begabung und Thatkraft schätzte.
Schon in K a n - t o n hatte L in eifrig gestrebt, sich Kenntnisse
über die Länder des Westens zu erwerben. Alle möglichen fremden
Bücher und Zeitungen liess er übersetzen und verarbeitete die
gesammelten Auszüge zu einem Werke in fünfzig Büchern und
zwölf Bänden: »Statistische Notizen über die Königreiche ' des
Westens.« Ein Ministerial-Beamter in P e - k i n , welchem das Manu-
seript übergeben wurde, ergänzte und erläuterte dasselbe durch Zusätze
aus den kaiserlichen Archiven. So wurde es 1844 gedruckt
und unter die höheren Staatsbeamten vertheilt37). Das Werk ist
ein Gemisch von Scharfsinn und Unverstand, von Richtigem und
Falschem, wie es bei den unzuverlässigen Uebersetzungen und des
Verfassers Unfähigkeit zu jeder Kritik europäischer Verhältnisse
nicht anders sein konnte; die meisten Vorschläge zur Vertheidigung
China’s sind chimärisch und abgeschmackt, wenn auch einzelne kluge
Einfälle mit unterlaufen; es ist aber merkwürdig als Aeusserung
eines begabten und ehrlichen Chinesen, und weil .es, Las einzige
Werk dieser Art, damals grossen Einfluss auf die Ansichten der
leitenden Politiker geübt haben muss. .
Lin’s auswärtige Politik geht von dem Grundsatz aus, dass
37) Ein Exemplar, das Gützlaff sich in S h a n g - h ä e verschaffte, ging nach Paris.
Barbaren durch Barbaren bekämpft werden müssen. »Wir pflegen
Piraten durch Piraten zu bezwingen; warum sollten wir nicht in
derselben Weise Barbaren-bekämpfen, die viele Tausend Li über
das Meer kommen? Um das aber mit Erfolg zu thun, müssen wir
uns über die Verhältnisse der auswärtigen Angelegenheiten unterrichten.
Die Engländer fürchten drei feindliche Mächte: Russland,
Frankreich und America; sie fürchten ferner vier von unseren Tribut
Staaten: Cochinchina, Siam, Ava und Nepal. Im Kriegsfall
kann man sie entweder zu Lande oder zu Wasser angreifen.
»Ihre schwächste Stelle für den Angriff zu Lande ist Indien,
gegen das wir Russland und Nepal in Gang setzen können. Indien
liegt südlich vom Himalaya-Gebirge, welches dasselbe von Tibet
scheidet; von England ist es viele Tausend Li entfernt, während
Nepal und Birma daran grenzen. Die russische Armee würde über
das Schwarze oder das Kaspische Meer kommen müssen, wo dann
noch das Gebiet einiger Hirtenstämme dazwischen liegt, welche sie
erst unterjochen müsste; dann trennt sie nur noch ein mit starker
Heeresmacht besetztes Schneegebirge von Indien.
»Bengalen, Malacca, Bombay und Madras erzeugen Opium in
Fülle, aus welchem die Engländer ein Einkommen von über zehn
Millionen jährlich beziehen. Die Russen haben lange den Besitz
dieses Geldes begehrt; und während die Engländer das Himmlische
Reich bekriegten, fürchteten sie, dass Jene nur einer Gelegenheit
harrten, um ihnen Hindostan -fortzunehmen. Damals wurde berichtet,
ein russischer Gesandter s.ei nach China gegangen.
»Während der Regierung de sKAN- g i wurdenFremdegebraucht,
um einen Vertrag mit den Russen zu schliessen; nachher bediente
inan sich dieser, um T s a n - k i - h u r 38) , einen mohamedanischen
Häuptling, einzufangen, der China sehr gefährlich war. Warum
sollten sie uns nicht in Bezug auf Indien gleiche Dienste leisten?
Nepal liegt westlich von Tibet. Als wir unter K i a - k i n die G o r k a
angriffen, fielen auch die Eugländer über sie her. Deshalb erklärten
Jene unserem Residenten in Tibet, dass sie mit Heeresmacht
aufzubrechen und Indien zu überfallen gedächten. Hätten wir den
Nepalesen erlaubt, den Osten von Indien zu belästigen, während
die Russen eine Diversion im Westen machten, so wäre Hindostan
in Gefahr gekommen, und die Schiffe dieser Barbaren hätten voll88)
Er wurde verrätheriscli nach P e - k in gelockt und dort grausam lmigericlitet.