
Ordnung, den Staat und die Familie erhält und sichert, — muss
auf festen Grundlagen ruhen: aber dem Eindruck kann sich kein
Unbefangener entziehen, dass sie nicht mehr schöpferisch wirkt.
Individuell hat der heutige Chinese etwas Fertiges, Selbstgenügsames,
ja Abgelebtes, Würdeloses. Vielen fehlt es nicht an einer
gewissen Tüchtigkeit: sie fassen schnell, handeln geschickt und
sind zu allen practisehen Arbeiten anstellig, die man sie lehren
mag; doch hat ihr Wesen etwas Hohles, Prosaisches, Maskenhaftes.
Fragt man ansässige Europäer, so spenden sie der Redlichkeit
und Zuverlässigkeit einzelner heimischen Kaufleute, Handlungs-
gehülfen und Diener das höchste Lob; viel mehr noch hört man
aber von Schurkerei, Hinterlist und berechneter Grausamkeit reden.
Die Familienliebe ist eine anerkannte Eigenschaft der Chinesen;
aber von Zügen hochherziger Freundschaft, Hingebung und Aufopferung
wird wenig berichtet; und diejenigen Eigenschaften des
Geistes und Herzens, welche dem Leben den höchsten Werth verleihen,
scheinen selten zu sein. Ausnahmen giebt es gewiss; aber
im Ganzen ist der heutige Chinese ein gesundes Weltkind, das
sich mehr aus practisehen als aus sittlichen Rücksichten der bürgerlichen
Ordnung fügt, und auf seinen Vortheil bedacht ist, go
weit es ihn-nicht in schlimme Conflicte bringt. So erscheint wenigstens
dem oberflächlichen Beobachter der Durchschnitt. Ein zuverlässiger
Maassstab für die Gesitttung eines Volkes ist der Werth
des menschlichen Lebens, welcher steigt mit dessen würdigem Genuss.
Der Werth des Menschenlebens ist aber kaum irgendwo
geringer als in China.
Oft wird behauptet, die Mandschu verschuldeten Chinas
Verfall. Hätte wohl nicht das massige Reich die wilden Horden
abgeschüttelt, wenn es bei voller Kraft war? Die Entsittlichung
am Hofe der letzten M in -Kaiser deutet auf arge Zerrüttung im
Volke. Man könnte sogar vermuthen, dass der kräftige, wenn auch
rohe Tartarenstamm dem alternden Körper frische Säfte zuführte.
K a n - g i , der in sechzigjähriger Regierung die Macht seines Hauses
begründete, war ein grösser Herrscher. Unter dem grössten Kaiser
der T s i n -Dynastie, K i e n - l o n ,m) der ebenfalls sechszig Jahre regierte
und dann abdankte, um seinen Grossvater nicht zu beschämen,
I27) K a n - s i regierte von 1662 bis 1722; K u sn - lo n herrschte von 1735 bis 1795
und starb 1799, 89 Jahre alt.
erlebte China wieder eine hohe Blüthe, und zwar, nach Kunstwerken,
— keineswegs vereinzelten, — aus dieser Periode zu ur-
theilen, der gesunden, kräftigen Blüthe. Da ist, wenigstens in der
Kunst, kein Zeichen des Verfalls, kein sinnliches Raffinement, sondern
frisches rüstiges Leben. Sollte das nicht die T s i n -Herrschaft,
das Aufrütteln der alten chinesischen Cultur durch die kräftige
Hand der Tartaren-Kaiser gewirkt haben? — Erst unter K ie n -
l o n ’s Nachfolgern, in diesem Jahrhundert; scheint der Verfall eingetreten
und reissend fortgeschritten zu sein; die mächtige Hand
fehlte, welche das Reich zusammenhielt, und in sich hatte der Organismus
keine Lebenskraft. K i a - k in war ein schlechter Regent
und Verschwender; er führte den Aemter-Verkauf ein. T a u -
kw a n hatte bürgerliche Tugenden aber keine Herrschergaben. Die
englischen Kriege brachten die grösste Noth über das Reich und
gaben es Rebellionen preis; sie zerbrachen das göttliche Ansehn
des erwählten Himmelssohnes und den Wahn von der Unbesiegbarkeit
der Tartaren, auf welchen das T s i n -Haus seine Herrschaft
wesentlich gründete; sie zerrütteten die Finanzen und zwangen den
Kaiser zu ausgedehntem Aemter-Handel und Einführung von Geldstrafen,
welche seitdem eine unentbehrliche Quelle des Staatseinkommens
wurden. D a d u r c h erhielt allerdings die chinesische
Gesittung den härtesten Schlag. Denn ihr ist der Kaiser der erwählte
Sohn des Himmels, das berufene Organ der Weltordnung,
mit welcher er sich im vollkommensten Einklänge befindet; seine
Befehle sind die Gebote des Himmels, denen sich jeder Gute fügt,
um selbst im Einklang mit der Weltordnung zu leben. Seine Geburt
giebt dem Kaiser kein Recht auf den Thron; der Vorgänger,
welchen seine Regierung als Himmelssohn legitimirte, hat ihn
unter seinen Agnaten erwählt. Dass die Wahl richtig war, muss
erst die Regierung des neuen Kaisers, der Segen beweisen, welchen
sie dem Reiche bringt; die Prüfung, die er täglich besteht, zeigt
ihn als den Würdigsten, als echten Himmelssohn. Wie nun der
Thron, so sind auch alle Aemter berufen, die Weltordnung zur
Geltung zu bringen; die W ü r d ig s t e n sollen sie bekleiden.
Diese im ganzen Reiche herauszufinden, ist der Zweck der
öffentlichen Prüfungen, einer Einrichtung, die, nach Ueberwin-
dung des Feudalismus vor Jahrhunderten zum integrirenden Theil
des politischen Systemes wurde und auf dessen sittlicher Grundlage
beruht.